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25.02.12 / Die alte Spieluhr / Großmutter hütete das Erbstück sorgfältig

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-12 vom 25. Februar 2012

Die alte Spieluhr
Großmutter hütete das Erbstück sorgfältig

Immer, wenn ich als kleines Mädchen meine Großeltern besuchte, sah ich sie. Die Spieluhr meiner Großmutter. Auf der Anrichte aus dunklem Holz, ganz in der Nähe des Fensters stand ein kleines unscheinbares Holzkästchen. Ich konnte es kaum erwarten, bis Großmutter am späten Nachmittag das Kästchen von der Anrichte nahm und es vor mir auf den Tisch stellte. Mit großen Augen blickte ich auf den Kasten, der mit seinem gewölbten Deckel an eine Schatztruhe erinnerte. Und jedes Mal, wenn ich andächtig diesen Deckel öffnete, erklang leise die Melodie. „Der Mond ist aufgegangen.“ Wie gebannt schaute ich auf die zierliche, weiße Figur, die vor einem Spiegel stand und sich zum Takt der Musik drehte. Eine kleine Ballerina, die ganz für mich alleine tanzte. Ihr zartes elfengleiches Wesen und ihre geschmeidigen Bewegungen faszinierten mich auf eine besondere Weise. Der duftige Rock bauschte sich um ihre schlanken Beine, und auf ihrem Gesicht lag ein bezauberndes Lächeln.

Für mich war diese Spieluhr eine Welt voller Geheimnisse. Immer wieder fragte ich mich, warum die kleine Ballerina nie müde wurde, warum ihre zarten Füße nie schmerzten und warum die Rose in ihrer Hand nie verblühte.

Großmutter erzählte mir, dass sie die Spieluhr vor Jahren von ihrer Patentante bekommen habe. Wie einen kostbaren Schatz hat sie das kleine Kästchen gehütet. Den Krieg und die Flucht aus Ostpreußen hatte die Spieluhr unbeschadet überstanden. Großmutter sagte, dass schon meine Mutter der Melodie gelauscht habe. Mit den Jahren verblasste die Farbe auf dem Holz und es war ein leichtes Krächzen zu hören, wenn Großmutter am Schlüssel der Spieluhr drehte. Auch die Ballerina kam in die Jahre, und die Pirouetten wurden zusehends langsamer. Aber ihren unnachahmlichen Charme hatte sie nie verloren. Heute steht die Spieluhr in meiner Stube auf dem Kamin. Meine Mutter schenkte sie mir, als Großmutter starb. Noch immer lausche ich in einer ruhigen Minute der zarten Melodie. Und mir ist so – als höre ich das Lied vom aufgehenden Mond zum ersten Mal. Mit der gleichen Faszination schaue ich immer wieder der kleinen Tänzerin zu, wenn sie anmutig ihre Pirouetten dreht. Helga Licher


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