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10.03.12 / Übles Spiel mit der Verantwortung / Glücksspielsucht ruiniert oft ganze Familien, doch der Staat verdient mit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-12 vom 10. März 2012

Übles Spiel mit der Verantwortung
Glücksspielsucht ruiniert oft ganze Familien, doch der Staat verdient mit

Seit 2008 gilt in Deutschland der Glücksspielstaatsvertrag. Zu dessen Zielen gehört, Spieler vor den Gefahren des Glücksspiels zu schützen. Doch gut 500000 Menschen in Deutschland sind krankhaft glücks­spielsüchtig. Gesetzeslücken auf Bundes- und Landesebene bieten Suchtgefährdeten kaum Schutz.

„Bei mir fing es mit den Automaten an: Mit 40 habe ich die letzten zehn Jahre alles verspielt, komplett alles, Erbe weg, Lebensversicherungen weg und es war die Hölle“, erzählt eine Betroffene der nordrheinwestfälischen Landesfachstelle Glücksspielsucht – ein typisches Schicksal. Die Sucht nach dem Spiel wird oft unterschätzt. Betroffene weisen äußerlich wenig Zeichen einer Suchterkrankung auf. Andere krankhafte Abhängigkeiten wie Alkoholismus sind zudem viel verbreiteter. Die Beschaffungskriminalität ist nach Erfahrung von Suchtberatern indes nirgends so hoch wie bei Glücksspielabhängigen.

Für viele von ihnen beginnt schon im jugendlichen Alter der Abstieg: „Man geht mal in eine Gastwirtschaft, schmeißt Geld in den Automaten“, so ein Spielsüchtiger. Im Suchtforum „Bet and Lose“ („Wette und verliere“) gibt es viele Einträge von Jugendlichen, die sich so den Start ins Leben verbauen: „Diesen Monat habe ich in zwei Wochen fast 1000 Euro verspielt, obwohl ich nur jeden Monat 400 Euro habe zum Leben“, so der Eintrag eines Studenten. Die staatlichen Glücksspiele wie Lotto und das gehobene Spielkasino mit seinen zahlreichen Rechenschaftspflichten bieten laut Suchtexperten nicht den größten Suchteinstiegs- oder Gefährdungsfaktor. Es sind die rund 10000 privat betriebenen deutschen Spielhallen, in denen die Schwelle zur Sucht niedrig liegt.

Dennoch fördert der Staat das Glücksspiel. Vor allem bestimmt er die Regeln der Branche und begeht manche Unterlassungssünde. Mit jährlichem Millionenaufwand wirbt er für verantwortungsvolles Spiel, vor allem seit seine Alleinherrschaft im Markt unter dem Druck der EU bröckelt. Verantwortung ist sein Argument beim Verteidigen des Monopols gegen private Betreiber.

Der Deutsche Lotto- und Totoblock bietet also mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Beratung an und schließt doch zu wenig Süchtige vom Spiel aus. Einzelne Bundesländer verhalten sich besonders widersprüchlich. So sieht sich Niedersachsen dem Vorwurf ausgesetzt, auf Verkehrsschildern an Autobahnen rechtswidrigerweise für Spielhallen zu werben. Schleswig-Holsteins neuer Glücksspielstaatsvertrag stellt sogar eine bundesweit einmalige Liberalisierung dar: Werbebeschränkungen fallen und Ausgleichszahlungen der Industrie zur Suchtbekämpfung planen die Politiker nicht. Die suchtgefährdenden Automaten sind im neuen Gesetz nicht erfasst. Sie gelten als Teil der Unterhaltungsindustrie, denn ob sie einen Gewinn ausschütten, hat nichts mit Glück zu tun: Es ist vorgegeben. Spieler verlieren somit meist schon beim ersten Knopfdruck.

In den als „Daddelhallen“ bekannten privaten Spielhallen bringen sich Arm und Reich um ihre Existenz. „Ein 17-Jähriger ging beispielsweise in diesen privaten Spielhallen ein und aus, obwohl seine Sucht dort bekannt war. Ich riet den Eltern zur Anzeige“, so ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle bei Hamburg. „Meine Familie hat sich von mir abgewendet, der Arbeitsplatz, Freunde sind weg und im Ort hat mir keiner mehr vertraut, denn ,die geht ja spielen‘“ – so oder ähnlich beschreiben viele ihre Abwärtsspirale. „Schulden bis in den sechsstelligen Bereich und weite Auswirkungen auf die Familien bis zur Existenznot“ hat Martin Witte von der Fachstelle Glücksspielsucht der Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Holstein erlebt.

Die Abhängigkeit lässt alle Schranken fallen: Mütter gehen heimlich an das Ersparte ihrer Kinder, Jugendliche bestehlen ihre Eltern. „In einigen Fällen stahl ich Geld, um die Automaten weiter füllen zu können. Mit einem Freund machte ich darüber hinaus drei Einbrüche“, so die Bilanz eines Bremer Abhängigen. Viele Süchtige bleiben selbst nach einer Therapie lebenslang rück­fallgefährdet. Neue Trends wie Glücks­spielwerbung und Internetglücksspiele erleichtern den Zugang weiter. Süchtige nutzen Letztere oft nebenbei. „Jetzt gibt es neue Automaten, für Frauen gemacht, da kannst du für fünf Cent spielen, für zehn Cent spielen, trinkst deinen Kaffee und fällst nicht mehr auf“, so eine Spielsüchtige. Sie bemerkte, wie Spielerinnen in den letzten Jahren wegen neuer Geräte zunahmen. „Schöne bunte Bilder mit Delfinen“ hatten sie mehr angesprochen.

Die Suche nach Selbstbestätigung, der Wunsch, vom Alltag abschalten zu können, beeinflussen bei Männern wie Frauen das Suchtverhalten. Bei Frauen ist das Suchtbild indes oft stärker vom Kampf um Anerkennung geprägt: „Ich habe mich eigentlich immer nur zerstört, ich mag mich nicht“, so die Aussage einer Spielsüchtigen. Die privaten Anbieter der Branche kümmern solche Schick­sale nach Erfahrung von Suchtberatern kaum. Nur Umsatz zählt: Einem Besitzer von 18 sächsischen Provinz-Spielhallen wirft die Staatsanwaltschaft das Betreiben verbotener Automaten vor. Durch niedrige Einsätze schaffte er demnach ein besonderes Suchtpotenzial und verdiente binnen zwei Jahren rund 1,4 Millionen Euro nur aus diesen Billigautomaten.

Goldgräberstimmung beflügelt diese Anbieter: Deutschlands größter Glücksspielkomplex ist derzeit in München geplant. Um Beschränkungen der Automatenzahl zu umgehen, plant der Betreiber eine Vielzahl von Hallen, die er nicht einmal sichtbar trennt, wie es eigentlich vorgeschrieben ist. Angesichts solcher Landnahme im öffentlichen Raum fällt das Aussteigen dann umso schwerer, wie Abhängige in Selbsthilfegruppen berichten. Sverre Gutschmidt


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