19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
10.03.12 / Tödliches Heimweh / Biografie über Stefan Zweig

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-12 vom 10. März 2012

Tödliches Heimweh
Biografie über Stefan Zweig

Vor fast 70 Jahren, am 23. Februar 1942, fanden Hausangestellte den Schriftsteller Stefan Zweig und seine Frau Charlotte tot in ihrem Bett: ihn mit gefalteten Händen, sie zärtlich an ihn geschmiegt, als würden beide schlafen. Beide hatten sich vergiftet: er mit einer Überdosis Veronal, sie mit einer Überdosis Morphium. In seinem Haus in Petrópolis bei Rio de Janeiro hinterließ Zweig einen Abschiedsbrief, in dem er schreibt: „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich, eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, dass es mir und meiner Arbeit so gut und gastlich Rast gegeben … Aber nach dem 60. Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft.“

Zweig wurde ebenso wie Thomas Mann, Bertold Brecht und Lion Feuchtwanger zum Symbol für die Intellektuellen, die vor der nationalsozialistischen Herrschaft fliehen mussten. Doch nicht überall stieß sein Freitod auf Verständnis, zumal er im Gegensatz zu vielen Schriftstel-lerkollegen im Exil materiell gut abgesichert war. Die Beweggründe für seine Entscheidung versucht Laurent Seksik in seinem Roman „Vorgefühl der nahen Nacht“ nachzuvollziehen.

Der französische Autor beschäftigt sich mit den letzten Monaten Zweigs und seiner Frau Lotte im Exil. Nirgends hatte sich der europaüberzeugte Literat zuhause gefühlt. Weder in Deutschland, wo seine Texte auf der Liste der Bücherverbrennungen standen, in Österreich noch in London, wo er in seinem britischen Pass den Stempel „feindlicher Ausländer“ tragen musste. Über die Stationen New York, Argentinien und Paraguay gelangte Zweig 1940 schließlich nach Brasilien. Doch selbst in seinem sonnigen Gastland, dessen Bewohner ihn verehrten, fühlte er sich nicht sicher: „Er wusste, dass Rio eine Brutstätte deutscher Spione war. In den Hotels wimmelte es von Agenten der Gestapo.“ Trotz des großen Hauses mit Dienstpersonal, Geldes, eines Verlegers und des legendären Karnevals in Rio, den er gemeinsam mit Lotte kurz vor dem Doppelselbstmord besuchte, verfiel der 60-Jährige immer tiefer in Depressionen. Nach der Lektüre des Buches stellt sich aber unweigerlich die Frage, ob sein Leben nicht auch ohne die Erfahrung von Diktatur, Verfolgung und Krieg ein tragisches Ende gefunden hätte.

Zweig ist bekannt für seine historischen Biografien über Maria Stuart, Marie Antoinette und Amerigo Vespucci, die eher ein Psychogramm dieser Figuren als ein historisch korrektes Porträt darstellen. Eben diese literarische Form wählt Seksik und spiegelt das politische Weltgeschehen in den Seelenzuständen des Schriftstellers wider. Geschickt kontrastiert er die lebensbejahende Welt Südamerikas mit den düsteren Gedanken Zweigs. Er zeigt zudem die Ecken und Kanten des Schriftstellers auf, etwa seine Arroganz, sich als Intellektueller dem politischen Widerstand zu verweigern, oder sein Versinken im Selbstmitleid.

Doch manchmal überspannt der Autor den Bogen, zum Beispiel wenn er den Taxifahrer klischeehaft verlauten lässt, die Copacabana sei „der schönste Ort der Welt“, oder Bemerkungen über den psychoanalytischen Erzählstil Zweigs in ein Schachspiel einrahmt. Ausufernde Monologe und Wortgefüge, die im Deutschen gestelzter als im Französischen wirken, schmälern das Lesevergnügen. Dennoch lohnt sich das Buch für alle Zweig-Liebhaber und an Exilliteratur Interessierte. Sophia E. Gerber

Laurent Seksik: „Vorgefühl der nahen Nacht“, Karl Blessing Verlag, München 2011, 240 Seiten, geb., 18,95 Euro.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren