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17.03.12 / Das Hochzeitsgedicht / Bei Schiller großzügige Anleihen gemacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-12 vom 17. März 2012

Das Hochzeitsgedicht
Bei Schiller großzügige Anleihen gemacht

Neid kann viel Kummer mit sich bringen. Selbst Kinder sind nicht frei davon, und das musste Anna schon mit 10 Jahren erleben, als sie mit ihren Eltern zu einer Hochzeit eingeladen wurde. Vorher hatte man sie gebeten, ein Gedicht für die Brautleute zu schreiben. Ganz besonders schön sollte es werden, aber als sie grübelnd an ihrem Schreibtisch saß, fiel ihr nichts ein. ‚Dichter müsste man sein‘, dachte sie, und plötzlich stand Schillers „Glocke“ vor ihrem inneren Auge. Der Dichter hatte in seinen langen Versen auch über Brautstand und Ehe nachgedacht. So schrieb sie von einigen Strophen jeweils die erste Reihe ab und setzte ihre eigenen Gedanken in Reimform dahinter. Ihre Zeilen waren von Hoffnung und Lebensfreude durchdrungen, und sie hatte das Gefühl, dass ihr das Hochzeitsgedicht gut gelungen war.

Nach der Brautmesse, als die Gäste voller Vorfreude auf die Speisen warteten, erhob sich Anna, entfaltete ihren Zettel und las den gespannten Damen und Herren langsam und mit guter Betonung ihr Gedicht vor. Die Leute waren beeindruckt von dem Können der Zehnjährigen und spendeten herzlichen Beifall.

Als Anna nach draußen ging, folgte ihr Leonie. Die beiden kannten sich, aber auf dem Schulhof ignorierte diese die Jüngere. Nun aber hielt sie Anna am Ärmel fest. Die sah das verkniffene Gesicht der anderen und erwartete nichts Gutes. Aus Leonies Stimme floss reine Bosheit: „Von Schiller abschreiben kann ich auch. Das ist doch keine Kunst!“ Wie harte Steine prallten diese Worte in der Seele der kleinen Dichterin auf. War es denn so schwer, ihre Absicht zu erkennen? Außerdem hatte sie die Zeilen Schillers extra gezeichnet, doch das konnte sie nicht beweisen, weil die Brautleute das Gedicht behalten hatten. „So etwas nennt man Plagiat“, zischte Leonie auch schon, „ich werde das eurer Deutschlehrerin erzählen!“

Annas Stolz über ihr gelungenes Gedicht war dahin. Ob Leonie sie wirklich bei Frau Hardenberg schlecht machen würde? In der folgenden Zeit musste sie immer wieder daran denken, wie sie vielleicht schamrot vor ihrer Lehrerin und der Klasse stehen und kein Wort zu ihrer Verteidigung heraus bekommen würde. Aber es geschah nichts. So weit war Leonie trotz allen Neides doch nicht gegangen.

Viel später erzählte Anna der Mutter von ihren Ängsten und die beruhigte sie: „Kind, denke immer daran: Der Neid ist auch eine Form der Anerkennung.“            Gabriele Lins


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