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17.03.12 / Suche nach dem Antrieb / Motive der Deutschen, trotz absehbarer Niederlage 1944 weiterzukämpfen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-12 vom 17. März 2012

Suche nach dem Antrieb
Motive der Deutschen, trotz absehbarer Niederlage 1944 weiterzukämpfen

Die Monate zwischen Sommer 1944 und dem Kriegsende stürzten Deutschland in eine Apokalypse ungekannten Ausmaßes. Innerhalb dieser wenigen Monate fielen 2,6 Millionen deutsche Soldaten – mehr als in den vorangegangenen Kriegsjahren zusammen. Hunderttausende Zivilisten starben, das Reich sank endgültig in Trümmer. Die Literatur über die Endphase des Zweiten Weltkrieges ist unübersehbar. Sie reicht von militärisch-operativen Studien über Erlebnisberichte und chronologische Darstellungen bis hin zu Publikationen, die das Geschehen auf lokaler Ebene nachzeichnen. Die Frage, wie es sein konnte, dass die Deutschen dem Regime bis zum bitteren Ende die Treue hielten und selbst dann noch Widerstand leisteten, als die Rote Armee vorrückte, ist dabei jedoch weitgehend unbeantwortet geblieben.

Der britische Geschichtsprofessor Ian Kershaw, ein profunder Kenner der deutschen Geschichte und vor allem des Nationalsozialismus, ist dieser Frage in seinem neuesten Werk nachgegangen, indem er die Herrschaftsstrukturen und die Mentalitäten im Dritten Reich untersucht. An diesen beiden Aspekten erklärt er, warum Militär, Verwaltung, Wirtschaft, Volk und Terrorapparat bis zum bitteren Ende fast reibungslos „funktionierten“ – angesichts des vorhersehbaren Untergangs und damit wider alle Vernunft. Zur Beschreibung und Analyse dieser „Geschichte des Zerfalls“, wie er es nennt, wählt er einen narrativen Ansatz, um „die Dynamik und auch die Dramatik der Sterbephase des Regimes“ zu erfassen.

Als Ausgangspunkt für seine Darstellung wählt der Autor das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, da dies für das Regime eine entscheidende „interne Zäsur“ bedeutet habe. In den einzelnen Kapiteln betrachtet er die deutschen Reaktionen auf den Zusammenbruch der Wehrmacht im Westen im September, den ersten Einbruch der Roten Armee auf deutschen Boden im Oktober, die Folgen der fehlgeschlagenen Ardennenoffensive im Dezember, die Katastrophe, die Anfang 1945 über die östlichen Provinzen hereinbrach, die Eskalation des Terrors in der Heimat im Februar, den Zerfall des Regimes im März, die letzten, von unkontrollierter Gewalt gegenüber dem eigenen Volk begleiteten Durchhalteversuche im April und die Bemühungen der letzten Reichsregierung, den Kampf noch bis zum Abschluss der Evakuierungen aus dem Osten fortzusetzen. Den Schlusspunkt der Darstellung setzt die Schilderung der Kapitulation und die Verhaftung der Regierung Dönitz.

Damit legt Kershaw eine beeindruckende und packende Gesamtdarstellung der letzten Kriegsmonate vor. Dabei hält er sich vorbildlich an die Pflicht des Historikers, das Handeln der Menschen unter Berücksichtigung der damals herrschenden Zeitumstände zu beurteilen. Er schildert sachlich, analysiert, verbindet Einzel-ereignisse mit größeren Strukturen und kommentiert nur selten. So gelingt ihm diese Skizze der „Anatomie einer Selbstzerstörung“ auf vorbildliche Weise.

In Beantwortung der Eingangsfrage nennt Kershaw folgende Faktoren: Anerzogenes Pflichtgefühl, Vaterlands- und Heimatliebe, die auf Hitlers Person gegründeten Machtstrukturen, Angst vor Vernichtung durch den gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Terrorapparat, fehlende Handlungsalternativen des Einzelnen, Furcht vor den Gräueln der Roten Armee und nicht zuletzt ein allgemeiner Realitätsverlust. Für das Verständnis der epochalen deutschen Niederlage ist Kershaws Buch mehr als eine Ergänzung zu der bisherigen Literatur, es ist gleichsam unverzichtbar.      Jan Heitmann

Ian Kershaw: „Das Ende. Kampf bis in den Untergang“, DVA, München 2011, 703 Seiten, 29,99 Euro


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