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17.03.12 / Diktatur der Lauten / Zurückhaltung und Bescheidenheit zählen heute nicht mehr – Extrovertierte geben den Ton vor

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-12 vom 17. März 2012

Diktatur der Lauten
Zurückhaltung und Bescheidenheit zählen heute nicht mehr – Extrovertierte geben den Ton vor

Viele Menschen machen immer wieder dieselben Erfahrungen: Weil sie zurückhaltend oder scheu sind, werden sie konstant unterschätzt und oftmals übergangen. Vermutlich gehören sie zu den knapp 40 Prozent aller Menschen, die der Statistik nach introvertiert sind. Ihre Eigenschaften wie Vorsichtigkeit und Gründlichkeit werden mitunter sogar als pathologisch abgetan. Besonders für sie hat die US-Anwältin, Beraterin und Trainerin Susan Cain ein großartiges, anregendes Buch mit dem schlichten Titel „Still“ geschrieben. Bedauerlicherweise gebe es in unserer westlichen Gesellschaft ein Ideal, das der Mentalität der Extrovertierten entspricht, lautet ihre grundlegende Aussage. Die Folge sei ein Ungleichgewicht zugunsten der „Lauten“. Wie viele Talente dabei auf der Strecke blieben, sei überhaupt nicht abzuschätzen. Mit ihrem Buch möchte sie insbesondere eine Brücke zu den Stillen bauen. Deren Eigenschaften wie Sensibilität und Vorsichtigkeit würden heute mehr denn je benötigt. Nach eigenen Angaben hat sich Cain aufgrund eigener Erfahrungen jahrelang mit „dem Norden und dem Süden“ des Temperaments befasst. Ihre Erfahrungen, Beobachtungen sowie die Forschungsergebnisse der Neurobiologie stellt sie höchst anschaulich in drei Teilen dar, vielfach in Form von Fallbeispielen. Zwar bezieht sich das meiste auf die Lebens- und Arbeitswelt in den USA, aber alles ist nachvollziehbar und vieles erscheint übertragbar.

Seit über zehn Jahren ist Susan Cain als Trainerin für Verhandlungsführung in ihrer eigenen Firma tätig. Sie selbst sei ihre erste Klientin gewesen, verrät sie. Trotz starker Hemmungen habe sie in einer schwierigen Verhandlung ihren Standpunkt freundlich, ruhig und bestimmt vertreten. Introvertierte Menschen seien natürlich befähigt, nahezu jeden Beruf zu ergreifen, doch sie müssten an sich arbeiten, erklärt sie, und lernen, „wann man sich anpassen sollte und wann nicht“. Firmenchefs sollten ihrerseits auf die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter eingehen; nicht nur, aber auch, weil es sich auszahlt. Erwiesenermaßen zeichnen sich zurückhaltende Mitarbeiter durch mehr Einfühlungsvermögen, Empathie und Vorsicht aus, auch arbeiten sie zielorientierter und mitunter ausdauernder.

Im Kapitel „Der Aufstieg des ‚wirklich netten Kerls‘“ legt sie dar, warum diese positiven Eigenschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert des Wirtschaftsaufschwungs, immer weniger gefragt waren. Bei den ge- schickten Selbstdarstellern und Blendern, denen man in der Finanz-welt, der Wirtschaft und in der Politik überall begegnet, handele es sich um Extrovertierte. Diese seien risikofreudig und riskierten viel – oftmals zu viel. Man folge diesen Größen, so Cain, weil sie „eine Handlung initiieren – egal welche“. Ohne ins Detail zu gehen, behauptet sie, dass es Extrovertierte seien, die über die Tendenzen in unserer Gesellschaft bestimmten und in der Vergangenheit über Krieg und Frieden entschieden hätten. Sie berichtet über ihre Recherchen in US-Eliteuniversitäten, wo heute Eigenschaften wie Bescheidenheit und Besonnenheit weniger denn je gefragt sind. An diesen Kaderschmieden gebe es nur eine Norm, ein kontaktfreudiges, aufgeschlossenes Naturell. Nach Introvertierten hat die Autorin an der Harvard Business School (HBS) beinahe vergeblich Ausschau gehalten. Den Studenten wird in ihren Lernteams mitgeteilt: „Wenn Sie Unsicherheit ausstrahlen, leidet die Zuversicht darunter, die Geldgeber investieren nicht mehr, und Ihrer Firma kann erst recht der Bankrott drohen.“ In ein solches Licht gestellt, stimmt ihre Aussage nachdenklich: „HBS-Absolventen haben höchstwahrscheinlich unser Leben beeinflusst, ohne dass wir es ahnen. Sie haben beschlossen, wer wann in den Krieg ziehen soll; sie haben über das Schicksal der Detroiter Autoindustrie beschlossen; sie spielen führende Rollen in praktisch jeder Krise, die die Wall Street erschüttert.“ Der ehemalige Präsident George W. Bush zum Beispiel ist ein HBS-Absolvent.

So anregend das Buch auch sein mag – ärgerlich ist es doch, dass der Verlag es lautstark als „Kultbuch“ anpreist und damit den Aufruf der Autorin konterkariert, mehr auf die leisen Töne zu hören.  Dagmar Jestrzemski

Susan Cain: „Still“, Riemann Verlag, München 2011, geb., 448 Seiten, 19,95 Euro


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