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31.03.12 / Albtraum Europäischer Haftbefehl / Bundesverfassungsgericht deckte Mängel auf − Probleme auch in Brüssel erkannt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-12 vom 31. März 2012

Albtraum Europäischer Haftbefehl
Bundesverfassungsgericht deckte Mängel auf − Probleme auch in Brüssel erkannt

Ein Beschuldigter landet 16 Jahre nach einem Freispruch bei identischer Faktenlage erneut in Haft – was zunächst nach unhaltbaren Zuständen in einer Bananen-Republik klingt, ist durch den Europäischen Haftbefehl auch in Europa wieder Realität: Für den in Großbritannien lebenden Fotografen Graham Mitchell hat sich der 6. März als Albtraum entpuppt. Nachdem er 1995 während eines Portugal-Urlaubs unter der Beschuldigung einer Körperverletzung in Haft genommen worden war, in der er bis zu seinem Freispruch durch den Obersten Gerichtshof Portugals ein Jahr lang blieb, standen im Jahr 2012 erneut britische Polizisten mit einem portugiesischen Haftbefehl vor seiner Tür: In der gleichen Angelegenheit und nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Fair Trials International“, welche die vorgelegten portugiesischen Papiere prüfte, auch aufgrund der gleichen Faktenlage, die den Obersten Gerichtshof Portugals 1996 zu einem Freispruch veranlasste.

„Fair Trials International“ hat inzwischen zahlreiche solcher zweifelhaften Fälle dokumentiert, die aufgrund des im Jahr 2004 in der EU eingeführten Europäischen Haftbefehls zustandegekommen sind. Schlagzeilen machte etwa der Fall eines Beschuldigten, der sechs Wochen in Großbritannien aufgrund eines in Italien ausgestellten Europäischen Haftbefehls im Gefängnis saß. Erst eine öffentliche Kampagne führte dazu, dass die italienische Justiz auf seine Auslieferung verzichtete. Wie sich später herausstellte, war der Beschuldigte schlicht und ergreifend Opfer einer Verwechslung geworden.

Ob sich der Irrtum auch nach Überstellung in italienische Haft noch ohne Weiteres aufgeklärt hätte, ist fraglich. Immerhin ein Drittel der Betroffenen, die im Jahr 2010 Kontakt mit „Fair Trials International“ aufgenommen hatten, gaben an, dass sie in ausländischer Haft keinen Zugang zu Dolmetschern oder zu übersetzten Dokumenten hatten.

Die Beispiele sollten keineswegs als britische Sonderprobleme verstanden werden: Bereits im Jahr 2005 hat sich das deutsche Bundesverfassungsgericht mit dem Europäischen Haftbefehl befasst: Die bis dahin geltende gesetzliche Regelung wurde als verfassungswidrig eingestuft, so dass im Jahr 2006 das Gesetz nachgebessert wurde. Die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht war nicht nur wegen der aufgedeckten juristischen Mängel aufschlussreich, sondern auch, weil sie einen kurzen Einblick gab, wie Vorgaben aus Brüssel im Bundestag unkritisch durchgewinkt werden: Demnach hatten die Abgeordneten im Bundestag nur ein kurzes Zeitfenster von wenigen Wochen, in dem überhaupt auf die Vorgabe aus Brüssel noch Einfluss genommen werden konnte. Diese eingeschränkte Möglichkeit wurde dann noch nicht einmal genutzt. Die damalige FDP-Abgeordnete Sabine Leut­heusser-Schnarrenberger räumte ein: „Es gab kaum eine richtige Beratung, weil wir gar nicht gesehen haben, welche Auswirkungen das haben könnte.“ Der sich ansonsten stets kritisch gebende Hans-Christian Stroebele bekannte, sich „normativ unfrei“ gefühlt zu haben: „Europa sagt, das ist bindend, die Bundesregierung sagt, das ist bindend.“ Resultat war das wieder einkassierte Gesetz.

Trotz der Nachbesserung von 2006 bleibt das Instrument des Europäischen Haftbefehls bis heute fragwürdig: Der Haftbefehl beruht im Wesentlichen auf bloßem Vertrauen, dass in anderen EU-Ländern Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird. Diesen Vertrauensvorschuss genießen sogar Länder wie Bulgarien oder Rumänien, deren Rechtssysteme die EU-Kommission regelmäßig bemängelt. Ohne es größer publik zu machen, werden die Probleme im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl selbst in Brüssel erkannt. Ein Papier der EU-Kommission aus dem Jahr 2011 zweifelt zum Beispiel an, ob die Beschwerdemöglichkeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tatsächlich praxis­tauglich ist. Zum einen muss der Verstoß gegen die Menschenrechte bereits eingetreten sein – das heißt: Betroffene können erst klagen, wenn sie bereits in Haft sitzen. Zum anderen müssen erst alle Klagemöglichkeiten auf nationaler Ebene ausgeschöpft sein. Genauso fragwürdig ist ein anderer Aspekt des Europäischen Haftbefehls: Selbst wenn nationale Gerichte die Meinung haben, dass der im Ausland ausgestellte Haftbefehl zu Unrecht besteht, bleibt er in der gesamten EU zunächst einmal gültig. Sobald der Beschuldigte sein Heimatland verlässt, riskiert er seine Verhaftung. Norman Hanert


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