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07.04.12 / Unter falscher Flagge / Die Piratenpartei wirbt um Junge und Netzbürger, flaggt schwarz und ist politisch tiefrot

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-12 vom 07. April 2012

Unter falscher Flagge
Die Piratenpartei wirbt um Junge und Netzbürger, flaggt schwarz und ist politisch tiefrot

Nach der Wahl im Saarland werden die Piraten mit 7,4 Prozent viertstärkste Partei im Saarbrücker Landtag. In Berlin erreichten sie 2011 aus dem Stand 8,9 Prozent. Nächstes Ziel ist das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW), danach Schleswig-Holstein. Von den aufgeschreckten Altparteien müssen besonders die Grünen um Wähler bangen. Den Parteien steht ein Lehrjahr zu Chancen wie Grenzen der Aktivierung von Wählern über das Internet bevor.

„Mit dem Einzug in den ersten Landtag eines Flächenlandes hat die Piratenpartei bewiesen, dass sie in allen Ländern eine neue politische Kraft ist“, wertet die politische Bewegung ihren Wahlsieg über das Internet. „Schwarmintelligenz“ habe den Durchbruch gebracht. Dieser Schwarm, das sind laut einer ARD-Umfrage vor allem Neuwähler. Gut 23 Prozent dieser dem Internet und dessen sozialen Netzwerken zugeneigten Klientel setzte zuletzt auf die noch unfertige Programmatik der neuen Gruppierung. Als Ziele beschreiben die Freibeuter „Bürgerrechte“ und „informationelle Selbstbestimmung“. „Umwelt“ rangiert an dritter Stelle, allerdings fast völlig reduziert auf den nebulösen Begriff der Nachhaltigkeit. Weitere selbst beschriebene Aufgaben wie „Transparenz“, „gesellschaftliche Teilhabe“ oder „Urheberrecht“ kreisen stets um „Teilhabe am digitalen Leben“. Das selbstgesteckte Themenfeld ist somit denkbar schmal. Was immer das Netz betreffen könnte, so das Patentrecht, rückt kurz in den Blick-punkt, solange es eben den elektronischen Datenaustausch betrifft. Die Piraten stehen damit für einen Bedeutungswandel: Der realpolitischen Welt stellen sie die digitale gegenüber.

Das Unfertige dieser Welt wie ihrer neuen Partei macht gerade den Reiz für die jungen Anhänger aus. Laut Umfragen weiß jeder vierte Piratenwähler selbst nicht, für welche politischen Inhalte er steht. Die Piraten segeln so den Altparteien in der Gunst der Jugend davon und schaffen spontane Beteiligung, die sie von der Ochsentour hergebrachter Parteiwege loslöst. Auf Fühlungnahme mit der Netzgemeinde bedachte Politiker wie Peter Altmaier (CDU) können noch so viele digitale Beiträge leisten, ihre Sprache und ihr Wunsch nach Klarnamen bei Diskussionen im Netz halten mit dem Ansatz der Piraten nicht mit. Die lobten, dass der CDU auf solchem Weg ein „Gedankenfurz“, eine unüberlegte Äußerung vor Millionen Netznutzern, entfahre und hatte die Lacher auf ihrer Seite.

Mit den Piraten ist so eine neue chaotisch-linke Bewegung im Entstehen. Nach einer Umfrage der Forschungsgemeinschaft Wahlen wählten elf Prozent der Piraten-Wähler früher Grün. Gar 15 Prozent von ihnen machten zuvor ein Kreuz für „Die Linke“. Nur sechs Prozent entschieden sich einmal für die FDP, und auch CDU und SPD verlieren vergleichsweise wenig Wähler an die Freibeuter. Das deckt sich mit den teils radikalen Vorstellungen der häufig wechselnden führenden Piraten. Piratin und Politologin Julia Schramm (Jahrgang 1985) befürwortet ausdrücklich das Ende des Konzepts Privatsphäre, dem Internet sei Dank. Sie versteht sich seit jeher als Kämpferin gegen „Öko-Spießer“, so ihre Sicht auf das Vorfeld der Grünen, auch wenn ihr „die grundsätzlichen linken Werte“ nach eigenem Bekunden „immer nah“ waren. Der 29-jährige Parteichef Sebastian Nerz will eine „transparente Politik, in der sich jeder einbringen kann“. Ein parteieigenes System namens „Liquid Democracy“ („Flüssige Demokratie“) soll Abstimmungen und Inhaltsfindungen der Piraten für jeden im Netz möglich machen, auch mit anonymer Beteiligung. Solche Mitmachkultur ohne langfristige Inhalte und Verantwortung stellt das bisherige Parteiensystem auf die Probe. Das reagiert gereizt. FDP-Generalsekretär Patrick Döring kritisierte die Piraten, weil sie über das Internet eine „Tyrannei der Masse“ schüfen. Laut SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles wird den Piraten ein Coolness-Faktor zugeschrieben.

Der Mentalitätsunterschied zwischen Alt und Neu offenbart sich schon in der Sprache. Viel Denglisch, „Queerpolitik“ und „Whistleblowing“, also Politik für alle, die Normabweichung für einen Wert an sich halten, sowie für Tippgeber ähnlich denen der Enthüllungsorganisation Wikileaks treibt die Piraten um. Sie wollen „Klarmachen zum Ändern!“ Eigentum, besonders geistiges, achten sie namensgemäß gering, sind für „bedingungsloses Grundeinkommen“ und Kinderbetreuungsrecht von Geburt an. Auch „Gender“ ist ein Thema, dabei musste Berlins Piraten-Frontfrau Marina Weisband zugeben, dass ihre junge Partei keineswegs mehr Frauen aufbietet als die etablierten. Auch Zuwanderer sind dort rar, ebenso Äußerungen zur Euro-Krise oder Afghanistan. Die Forschungsgruppe Wahlen geht indes nicht davon aus, dass die Piraten in NRW ihr letztes Wahlergebnis von 1,5 Prozent über die Fünfprozenthürde hinaus steigern. Das entspräche durchaus dem Selbstbild: „Es gibt keine Delegierten, jeder ist gleichberechtigt.“ S. Gutschmidt


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