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14.04.12 / Über die Weichsel – und wieder zurück / Interniert im Schreckenslager Brakupönen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-12 vom 14. April 2012

Über die Weichsel – und wieder zurück
Interniert im Schreckenslager Brakupönen

Es gibt Schicksale, die für die Menschen von heute einfach nicht nachvollziehbar sind. Warum gingen Flüchtlinge, die sicher über die Weichsel gekommen waren, dann doch wieder in die zerstörte Heimat zurück? Wo nicht der verlassene Hof wartete, auf dem sie sich wohl einen mühsamen Neubeginn erhofften, sondern ein Internierungslager wie das von Brakupönen im Kreis Gumbinnen, ein berüchtigtes Sammellager, in dem zwischen 1945 und 1948 etwa 1500 vertriebene Deutsche untergebracht waren. Zu ihnen gehörte auch die Familie Weber aus Weidengrund, die im Januar 1945 westwärts geflüchtet war und bei Verwandten in Neustadt bei Dresden eine Unterkunft gefunden hatten. Ohne jegliches Hab und Gut, denn ihre Fluchtwagen waren an der Oder zurückgeblieben. Noch wusste man nicht, was in Ostpreußen nach der Kapitulation an Furchtbarem geschehen war und noch geschah, und deshalb bekamen die Flüchtlinge die Aufforderung zu hören: „Geht doch dahin, wo ihr gewohnt habt!“ So schildert es jedenfalls Frau Ingrid Maria Neumann geborene Weber, die damals neun Jahre alt war und der sich die dann folgenden Schreckensjahre so in das Gedächtnis eingeprägt haben, dass sie mit ihren Erinnerungen authentisch über das Geschehen in dem Internierungslager berichten kann. Sie sind in der Broschüre „Berichte aus dem sowjetischen Internierungslager Brakupönen/Rosslinde von 1945 bis 1948“ enthalten, die Frau Gertrud Bischof, Nürnberg, in 20-jähriger mühsamer Recherche zusammengestellt hat, wobei sie auch oft unsere Ostpreußische Familie befragte. Das Heft enthält neben dem ausführlichen Beitrag von Frau Neumann eine namentliche Auflistung von 318 Internierten, die sich bis 1948 in Brakupönen befanden. Einem von ihnen, Herrn Hans Nagel aus dem samländischen Bergau, gelang es, diese Liste mit Namen und Daten bei seiner Entlassung 1948 aus dem Lager herauszuschmuggeln. Nach mündlichen Überlieferungen kamen in Brakupönen täglich zehn bis 20 Internierte ums Leben. Da bei den Russen immer die Norm stimmen musste, wurde versucht, Menschen aus anderen Gebieten in das Lager zu verschleppen. So finden sich Internierte aus Lyck, Treuburg oder Osterode darunter, die meisten kamen aus Königsberg und dem Samland. Was in dem Dorf Brakupönen, das 1938 in Rosslinde umbenannt worden war und 850 Einwohner hatte, in den erhalten gebliebenen oder teilweise zerstörten Gebäuden geschah, in denen die Internierten untergebracht wurden, lässt sich aus dem Bericht von Frau Ingrid Maria Neumann erahnen.

„Nach der Flucht und den Wirren nach dem Krieg wollte unsere Familie 1945 unseren Bauernhof in Weidengrund wieder aufsuchen, um uns eine Überlebensgrundlage zu sichern“, begründet sie den Entschluss ihrer Eltern zu der erhofften Heimkehr. „Meine Mutter glaubte fest daran, dass Bellies, unser polnischer Arbeiter, der bei den zurückgelassenen Wagen an der Oder verblieben war, mit diesen zurück nach Weidengrund gefahren sei. Auf offenen Loren fuhren wir am 20. Mai 1945 wieder über die Weichsel – gen Osten! Franzosen und Holländer, aus russischen Lagern entlassen, flehten uns an, mit ihnen wieder westwärts zu fahren.“ Hätten die Webers nur darauf gehört, denn sie kamen nicht mehr auf ihren Hof. In Königsberg mussten sie den Zug verlassen und gingen zu Fuß bis Gumbinnen, wo sie von den Russen interniert wurden. Täglich duften sie für zehn Minuten nach draußen, um die Notdurft zu verrichten. Jeder, der zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Wer erkrankte, kam in das „Sterbelager“ Brakupönen, wo Typhus, Hunger und Pein grassierten. Der Tod kehrte in jede Familie ein. So auch bei den Webers, nachdem die Eltern erkrankten und die Familie mit ihrer Haushaltsgehilfin Gertrud Bausche nach Brakupönen transportiert worden war: Johannes Weber verstarb 45-jährig am 22. November 1945. Seine Frau Emma stand nun mit ihren Kindern Alice (11), Ingrid (9) und Lothar (5) alleine da. Gertrud Bausche war mit anderen Mädchen von den Russen nach Gumbinnen „zum Kuchenbacken“ gebracht worden – sie kam nie wieder!

„Wie konnte unsere Mutter die schwere Zeit mit drei Kindern nur überstehen?“, fragt ihre Tochter Ingrid noch heute. Und gibt selber die Antwort: „Sie galt bei den Russen als Spezialist, konnte Drill- und Dreschmaschine bedienen, hatte einen Führerschein, fuhr im russischen Konvoi das Getreide nach Gumbinnen und Königsberg, bis es zu einem Auffahrunfall kam. Da sie nach dem Tod ihres Mannes dessen Kleidung trug und das Haar streng unter einem Kopftuch versteckte, wurde sie nicht vergewaltigt. Ihre Kinder brachte sie mit heimlich beiseite geschafften Ernteabfällen durch – bis sie geschnappt wurde.“

Emma Weber konnte oder wollte sich später an diese Zeit nicht mehr erinnern, so hat ihre Tochter aus ihrer Sicht den Bericht geschrieben, auf den wir wegen der Fülle an Informationen sicher noch öfters zurückgreifen werden. Heute sei vor allem Frau Gertrud Bischof, und ihren Helfern, besonders Herrn Hans Nagel, Leipzig, gedankt, dass diese kleine Dokumentation zustande gekommen ist, was sie so begründet: „Das sind wir doch allen Leidtragenden schuldig, denn im Allgemeinen herrscht tiefes Schweigen über dieses Thema.“ (Gertrud Bischof, Richard-Strauß-Straße 3a in 90455 Nürnberg.)   R.G.


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