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14.04.12 / »Windstille der Seele« / Das Phänomen der Entschleunigung – Vielfältige Reaktionen auf die Hektik des modernen Lebens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-12 vom 14. April 2012

»Windstille der Seele«
Das Phänomen der Entschleunigung – Vielfältige Reaktionen auf die Hektik des modernen Lebens

Die Statistik spricht für sich: Jährlich gut über 200000 Herzinfarkte und Herzrhythmusstörungen. Psychosomatische Beschwerden nehmen rasant zu. Ein Achtel des Krankenstandes geht inzwischen auf Depressionen und andere psychisch bedingte Leiden zurück. Sie haben laut einer Studie der DAK seit 1991 um etwa 33 Prozent zugenommen. Der Preis ist hoch, der Preis für Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Die Demonstrationen lärmgeplagter Bürger an den Flughäfen in Frankfurt, Berlin und München von Mitte März sind in diesem Zusammenhang als Aufschrei zu werten, in Politik und Wirtschaft mehr auf die Bedürfnisse der Bürger und weniger auf die nackten Erfordernisse der Ökonomie Rücksicht zu nehmen.

Und so erklärt sich auch das Phänomen der Entschleunigung, die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Diese Philosophie eines bewussten Privatlebens zum Abbau beruflichen Stresses war unseren Vätern und Großvätern nicht bekannt, den Müttern und Großmüttern schon gar nicht. Sie lebten es. Nun wurde dieses Denken als Kind unserer hektischen Zeit neu geboren.

Der Begriff Entschleunigung stammt aus der Feder des Schriftstellers Jürgen vom Scheidt. Er prägte ihn 1979, im Jahr 1990 war er dann Gegenstand von Publikationen der Evangelischen Akademie Tutzing. Inzwischen ist er längst Allgemeingut geworden.

Zwar gelingt es nicht, den Fluss der Zeit anzuhalten, doch wird durch ein entschleunigtes Leben ihre Wahrnehmung eine andere. Begriffe aus dem englischen Sprachraum wie „Slowfood“ (langsames Essen), „Citta-slow“ (Steigerung der Lebensqualität in Städten) und „Slowretail“ (Läden und Handel mit gepflegtem Sortiment langlebigerer Waren) kamen auf. Das Wort „Geschwindigkeitsbegrenzung“ zog in die Verkehrspolitik ein. Eine Rückbesinnung auf das Erlebnis der Natur durch Wanderungen, auch sogenanntes Weitwandern, „Outdoor“-Aktivitäten mit einer neuen Sinnsuche und einem tiefer gehenden Erleben, ja selbst wochenlange Atlantiküberquerungen mit einem Segelboot sind Versuche, der modernen Komplexität, Hast und Hektik, permanent eingeforderter Effektivität etwas entgegenzusetzen. Statt Abenteuer nimmt der Wunsch nach Langsamkeit und Distanz zu – erst beim Laufen rücken Entfernungen wieder auf das Normalmaß zurück, das wir mit Auto, Eisenbahn und Flugzeug nur scheinbar außer Kraft setzen.

Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela mit seinen 2350 Kilometern von Konstanz aus verzeichnet eine immer höhere Frequenz: 1989 waren es noch 5760 Pilger, 2010 bereits 270000. Ein entsprechendes Schrifttum wie Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ mit seiner Millionenauflage, aber auch Magazine wie „Landlust“, „Landliebe“ und andere ähnlich betitelte spiegeln die Sehnsucht der Menschen nach Selbstfindung und Ruhe, nach einem anderen Lebenssinn als nur jenem der „Spaßgesellschaft“, der Mehrung des Geldes sowie der Technisierung und Materialisierung des Daseins wider.

Viele können auch in ihrem reduzierten Privatleben und während der Urlaubszeit nicht mehr abschalten. Der „eindimensionale Mensch“, wie ihn Herbert Marcuse beschrieben hat, ist allgegenwärtig. Nicht mehr nur sportliche Aktivität, die Fitness werden zum Ziel, sondern die Suche nach sich selbst – um das zu erreichen, was bereits der antike Philosoph Epikur als „die Windstille der Seele“ bezeichnet hat sowie später von Nietzsche und Kierkegaard wieder aufgegriffen wurde: der innere Frieden des Menschen, der in  Seelenruhe und Gelassenheit liegt.

Zu dieser Bewegung gehört auch das alternative Wohnen etwa in Containerhäusern, Bau- und Zirkuswagen („Peter Lustig“), Hausbooten sowie den energie-, wasser- und wärmeautarken „Earthships“ – Häusern, die aus Müll gebaut sind. Ein einfacheres Leben eben.

Sogar einen „Verein zur Verzögerung der Zeit“ gibt es: 1990 rief ihn der österreichischen Universitätsprofessor Peter Heintel ins Leben. Inzwischen sind laut eigenen Angaben 1000 Mitstreiter dabei, künstlerisch und humorvoll sollen Name und Programm sein. Der Zusammenschluss will einen reflektierten Umgang mit Zeit erlernen: „Die Mitglieder im Verein verpflichten sich zum Innehalten, zur Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Aktivismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produziert“, heißt es in den Vereinsstatuten.

Wer länger und nicht als Pauschalurlauber die Südsee bereist hat, der weiß um eine andere Zeit, jene der Polynesier, die eine Lebenshaltung außerhalb unseres Zeitempfindens beinhaltet. „Die Europäer haben zu viele Uhren, aber keine Zeit“, dieser Satz eines Massai-Nomaden in Afrika bringt es auf den Punkt. Solche Menschen leben in einem gewissen Sinne zeitlos. Zwar vergeht auch in ihren Regionen die Zeit, doch sie hat nicht den Stellenwert unserer westlichen Gesellschaft, der durch die Stechuhr am besten symbolisiert wird. Ständig und überall verfügbar: Dieses Dogma der globalisierten Welt hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Menschen des 21. Jahrhunderts. Und es nimmt nicht wunder, wenn dem viele wenigstens zeitweise entfleuchen wollen. Joachim Feyerabend


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