20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.04.12 / Prosa mit Ich-Botschaft / Beziehungs-Geschichten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-12 vom 14. April 2012

Prosa mit Ich-Botschaft
Beziehungs-Geschichten

Für den ersten Gedichtband ihres berühmten Vaters malte Alissa Walser die Illustrationen. Sie hatte in den 80er Jahren Malerei in Wien und New York studiert, bevor sie nach Frankfurt zog. Seit den 90er Jahren ist die gebürtige Friedrichshafenerin auch schriftstellerisch tätig. Nach ihrem hochgelobten Romandebüt „Am Anfang war die Nacht Musik“ im vorigen Jahr tauscht die 50-Jährige jetzt abermals den Pinsel gegen die Feder ein und präsentiert ihren dritten Erzählband. Ihre Prosa handelt vom Umgang der Menschen miteinander, von Beziehungen zwischen Frauen und Männern und vom Verhältnis zum eigenen Körper.

Walsers Geschichten drehen sich um Alltagssituationen, die plötzlich gar nicht mehr alltäglich, sondern surreal-traumartig erscheinen. Da ist etwa Nina, die auf einer Frankfurter Vernissage den attraktiven Wirtschaftsre­dakteur Viktor kennenlernt. An der Bar langweilt dieser die junge Frau jedoch mit seinen Finanzgeschichten und verschwindet schließlich für einen Moment. Neugierig öffnet Nina die Tasche des Fremden und ist überrascht, als darin weitere Taschen nach dem Prinzip der russischen Matroschka-Puppen zum Vorschein kommen. Die künstlerische Ader der Autorin wird spätestens bei den fotografischen Beschreibungen des Buffets deutlich: ausgehöhlte Fleischtomaten mit weißen Mayonnaise-Herzen, grasgrüne Basilikumblätter, aber auch bräunlich verfärbte Blattränder. Die begrenzte Haltbarkeit der Lebensmittel leitet über zur Vergänglichkeit des menschlichen Daseins. Nina beobachtet die Partygäste und entdeckt „die Übergänge zu Grau im Haar einer blonden Frau, den Achselschweiß im Muster eines Männerhemds und überkronte Zahnreihen“.

Die Episoden tragen autobiografische Züge. Die meisten der Hauptfiguren sind weiblich, im Kunstmilieu verankert, leben in New York oder Frankfurt und haben Schwestern. Walser hat deren gleich drei, die alle im Literaturbetrieb oder auf der Bühne aktiv sind.

Die neun miteinander verzahnten Geschichten sind aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und offenbaren die Beziehungsgeflechte der zunächst unabhängig erscheinenden Protagonisten. Nur die Episode über die impressionistische Malerin und spätere Schwägerin von Eduard Manet, Berthe Morisot, fällt mit einem historischen Sujet aus dem Rahmen. Hier geht es um die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert und die gesellschaftlichen Zwänge als Künstlerin.

Wie ein roter Faden ziehen sich Ich-Botschaften durch das Buch, angefangen beim Titel über die namenlose Ich-Erzählerin bis hin zur Maxime „Immer ich sagen“, die zur Selbstverantwortung und zum Bekenntnis der eigenen Gefühle einlädt. Mit dieser Devise ermuntert Ninas Onkel seine Nichte, wenn sie vergeblich versucht, die Schnürsenkel zu binden oder angewidert die Kalbsvögel samt Augen auf ihrem Teller betrachtet und sich hinter allgemeinen Phrasen wie „Geht nicht“ oder „Man kann das nicht essen“ versteckt.

Walser hat ein großes Gespür für Situationskomik, lyrische Sprache und eindrückliche Momentaufnahmen. Vor dem Auge des Lesers entstehen Bilder eines New Yorker Waschsalons, in dem Menschen an Heiligabend mit Zeitungen und Kaffeebechern hinter beschlagenen Scheiben auf ihre Wäsche warten, oder das einer Russin mitten in Brooklyn, die mehrere Bademäntel übereinander trägt und ihre Möbel verbrennt. Bisweilen wirkt die elliptische Erzählkunst der Autorin allerdings anstrengend und langweilig.         Sophia E. Gerber

Alissa Walser: „Immer ich“, Piper Verlag, München 2011, geb., 159 Seiten, 16,95 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren