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21.04.12 / »Der letzte Zug« steht noch auf Halt / Leser ergänzen und korrigieren die Berichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-12 vom 21. April 2012

»Der letzte Zug« steht noch auf Halt
Leser ergänzen und korrigieren die Berichte

Der letzte Zug ist noch immer nicht abgefahren – jedenfalls nicht für unsere Familie, dieses Thema beschäftigt unsere Leserinnen und Leser sehr, denn eine Zuschrift hat in Bezug auf die Datenangabe einige Verwirrung ausgelöst: Es handelt sich um den Bericht von Herrn Klaus D. Briem, den wir in Folge 12 im Wortlaut brachten und der so beginnt: „Es war ein Montag, der 23. Januar 1945.“ Das Datum kann aber nicht stimmen, denn der betreffende Montag war der 22. Januar. Um neuen Irrtümern vorzubeugen, hat sich unser aufmerksamer Leser Herr Friedrich Gastell, Isernhagen, im Internet kundig gemacht, dort zeigt der „ewige Kalender“ dieses Datum an. Jetzt ergeben sich also neue Fragen, die unsere Leser stellen. Bleiben wir zuerst bei der Zuschrift von Herrn Fried-rich Gastell, dem damals mit Mutter und Geschwistern die Flucht mit der Eisenbahn ab Elbing gelang. Er schreibt: „Unser Landsmann Klaus Briem hat mich mit seinem Bericht zunächst etwas verunsichert. Ich erinnere mich nämlich an die Autofahrt von Allenstein nach Elbing als Achtjähriger bei herrlichem Sonnenschein auf fester Schneedecke und bin sicher, dass es ein Sonntag war. Bisher war ich der Meinung, dass dieser Sonntag der 21. Januar war. Die Flucht von Landsmann Briem müsste danach schon am 22. Januar begonnen haben, wenn er sich nicht im Wochentag geirrt hat. Aber dann wäre ja noch am 24. Januar ein Zug aus Elbing herausgekommen!? Das halte ich für unwahrscheinlich, ich werde aber versuchen, herauszubekommen, ob das noch möglich war. Im Übrigen wundere ich mich über die ,friedensmäßigen‘ Verhältnisse in dem ,Arbeiterzug‘, in dem die Familie Briem unterkam. Unser Zug wurde am Sonntag, den 21. durch die Fenster mit Kindern, vielleicht aus einem Kinderheim, vollgestopft, weil durch die Zuggänge kein Durchkommen war.“

Auch Herr Eberhard Labeit aus Freudenberg hat die irritierende Datumsangabe bemerkt und nimmt dazu Stellung. Zugleich gibt er aber in wenigen Sätzen einen Einblick in das furchtbare Geschehen, das seiner Familie widerfuhr und das gerade in dieser knappen Schilderung so bedrückend wirkt. Was an jenem Sonntag, den 21. Januar 1945 geschah, sollte sein ganzes Leben bestimmen. Das ist sein kurzer Bericht: „Zu der Erinnerung von Herrn Briem möchte ich eine Korrektur anbringen. Er schreibt, sie wären am 23. Januar 1945 geflüchtet, das kann nicht stimmen, denn entweder sind sie am Montag, den 22. Januar, oder am Dienstag, den 23. Januar, geflüchtet. Wenn sein Datum stimmt, dann stimmt der Tag nicht und umgekehrt. Denn es war Sonntag, der 21. Januar 1945 mittags um 12 Uhr, als der erste Sowjetsoldat in unserer Einzimmerwohnung in der Tür stand und sagte: ,Gitler kaputt (Russen können kein H sprechen), Russischsoldat gut, Frau komm!‘ Damit zeigte er auf meine Mutter, und sie musste mit ihm in ein anderes Zimmer gehen und wurde das erste Mal vergewaltigt, bis zu ihrem Tod mehr als 20-mal. Wir – meine Mutter, meine Oma, meine ein Jahr alte Schwester und ich, 1933 geboren, – waren im August 1944 aus Memel nach Gröben, Kreis Osterode evakuiert worden. Für uns war der Krieg an jenem Sonntag zu Ende. Die russische Dampfwalze hatte uns überrollt, was dann kam, steht in vielen Erlebnisberichten. Meine Oma ist am 21. Oktober 1945, meine Mutter neun Tage später verstorben – beide an Typhus. Meine kleine Schwester und ich sind mit einer Krankenschwester, die sich uns Waisen angenommen hatte, im Dezember 1945 aus Osterode zu Verwandten nach Westfalen gekommen!“

Aus Australien meldet sich unser Landsmann Rüdiger Sakuth mit einem Literaturhinweis auf den vielleicht „letzten Zug“, fügt aber seine eigenen Fluchterlebnisse hinzu: „Als Evakuierte aus dem Memelland versuchten wir, meine Mutter und meine zwei Geschwister auch von Heilsberg aus mit einem Zug in den Westen zu gelangen, der Zug kehrte aber nach kurzer Fahrt wieder um. Wir saßen alle in diesem Waggon auf Stroh, unser Koffer ging kaputt und die paar Fleischgläser, die meine Mutter eingepackt hatte, kamen zum Vorschein und verursachten ziemliches Gerede, so ungefähr: Wie kann man bloß ausgerechnet Fleischgläser mitnehmen? Dann war da eine junge Frau, die auf einem Spirituskocher eine Babyflasche heißmachen wollte, wobei das Stroh Feuer fing und unter großer Aufregung mit Decken wieder gelöscht werden konnte. Dass das Ganze ,Flucht‘ hieß, hatte ich als Sechsjähriger schon vorher mitbekommen, weil uns Kindern von Fremdarbeitern gesagt wurde: Wehe euch, wenn die Russen kommen …“ Viele Grüße nach Australien und einen herzlichen Dank an alle aufmerksamen Leser. Wobei ich jetzt schon orakele, dass unser „letzter Zug“ noch lange nicht abgefahren ist. Diese Erinnerungen werden uns mit Sicherheit noch weiter beschäftigen, weil sie bei vielen Landsleuten auch die eigenen hervorrufen. R.G.


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