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05.05.12 / Wir wussten nicht, dass der Tod endgültig ist / »Wolfskind Traute« war eines der »Königsberger Kinder«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-12 vom 05. Mai 2012

Wir wussten nicht, dass der Tod endgültig ist
»Wolfskind Traute« war eines der »Königsberger Kinder«

An diesem Wochenende treffen sich im Ostheim in Bad Pyrmont die „Königsberger Kinder“, eine kleine Gruppe von Vertriebenen, die als elternlose Kinder die heute kaum vorstellbaren Elendsjahre 1945 bis 1948 im von den Russen okkupierten Königsberg erlebten und überlebten. Ein Zusammenkommen von Schicksalsgefährten ohne Zwänge und starres Programm, spontan gestaltet von den 22 Teilnehmern selber, die vor allem das Gespräch miteinander suchen. Eine von ihnen kann leider nicht teilnehmen, wird aber in Gedanken dabei sein: Gertraud Gross aus Chemnitz. Sie hatte mir vor einiger Zeit ihr Buch „Wolfskind Traute“ zugesandt, das den Lebenskampf eines verlassenen Kindes im Raum Königsberg dokumentiert mit allen Schreck­nissen, allen Grausamkeiten, allen Ängsten – und mit nie gestilltem Hunger. Es ist ihr eigenes Schicksal, das Gertraud Gross schonungslos und ohne Selbstmitleid aufrollt. Ich möchte aus diesem erschütternden Tatsachenbericht einige Stellen heraussuchen, die unseren Lesern einen Einblick in den Überlebenskampf eines schutzlos seinem Schicksal ausgelieferten siebenjährigen Kindes vermitteln, das seine ersten Lebensjahre in der Geborgenheit seines Elternhauses im samländischen Langendorf verbrachte. Nach einer missglückten Flucht fiel die Mutter Anna Hübner mit ihren vier Kindern in Russenhände. Was dann geschah, erzählt Gertraud Gross klar und ohne Pathos:

„War der Krieg schon schlimm, so war das Danach mörderisch für die Frauen und Kinder. Meine Mutter starb. Frau Guttzeit hatte sie noch versorgt, aber es konnte ihr nicht mehr geholfen werden. Auch da verstand ich noch nicht, was Sterben und Tod bedeutet. Jemand brachte eine lange Kiste und wollte Mutter auf die Bretter legen. Wir bestanden darauf, dass sie Kissen und Decken bekam. Das braucht ihr doch selber nötiger, wurde uns gesagt. Der Mann und andere Leute trugen Mutter hinaus. Draußen blühte der Faulbaum, und man gab uns Sträuße der weißen Blüten in die Hände und sagte, wir sollten sie Mutter mitgeben. Das taten wir. Dann gingen die Männer mit der Kiste fort. Am nächsten Tag kam Frau Guttzeit und brachte uns eine Schürze voll frisch gekochter Pellkartoffeln. Wir aßen sie mit Heißhunger, und das war das letzte Mal, dass sich jemand um uns Vier gekümmert hat. Niemand sagte uns, dass Kinder ohne Eltern in ein Waisenhaus gehören. Wir wussten gar nicht, dass es so etwas gab. Wir versuchten nun auf alle mögliche Weise, Essen zu besorgen. Es war Frühling und alles, was essbar war, wollten auch andere haben. Wir versuchten Spatzen zu fangen und bauten einen Kükenhort zur Spatzenfalle um. Wenn wir die gefangenen und getöteten Spatzen gerupft hatten, waren sie so mager wie wir. Ich kletterte in Kuhställen und an Dachrinnen entlang und nahm die Schwalbennester aus. Wir aßen Melde, Brennnesseln und die Knospen der Lindenbäume. Wir wurden nicht mehr satt, wir warteten abends am Fenster, dass Mutter zurückkommt. Wir wussten immer noch nicht, was Tod bedeutet. Obwohl wir tote Tiere und Menschen genug gesehen hatten, wussten wir nicht, dass der Tod endgültig ist. Alice und Siegfried, die Kleinen, bekamen Wasser (Ödeme). Das hatten zu der Zeit viele, auch Elfriede, die Älteste und ich – Beine und Arme waren stockdünn, und der Bauch aufgetrieben wie eine Trommel. Als erster starb der kleine Siegfried, mein kleiner blonder Bruder mit den vergissmeinnichtblauen Augen. Dann starb auch Alice mit den weißblonden Haaren und dem Leberfleck hinter dem Ohr. Nun merkten wir, dass das Sterben endgültig ist. Man holte auch die beiden in kleinen Kisten ab, wohin sagte uns niemand.

Wir zogen von da an etwa eineinhalb Jahre ohne Zuhause durch das Land. Wir lernten, uns das Lebensnotwendige zu beschaffen. Von größeren Jungen hatten wir gelernt, wie man Karbid in eine Brauseflasche füllt, Wasser aufgießt, mit dem Patentverschluss verschließt und sie schnell in den See oder Teich wirft. Die Flasche explodierte, und die Fische schwimmen an der Oberfläche. Als die Erntezeit kam, konnten wir Feldfrüchte stehlen. Elfriede stellte sich oft etwas tapsig an, also muss­te ich das „Versorgen“ übernehmen. Wir waren immer auf der Hut und mussten oft die Flucht ergreifen. Die bestellten Felder wurden von den Russen bewacht, Männer mit Karabinern über der Schulter umkreisten die Felder. Bis zum Spätherbst zogen wir so im ländlichen Gebiet umher. Die Kleidung zerlumpte mehr und mehr. Wir lebten nur mit Blick auf den Tag und wie wir den Hunger stillen konnten. Wir trafen ab und zu andere Kinder, die auch so lebten. Wir blieben aber nicht zusammen, denn die Aussicht durchzukommen sank mit der Gruppe. Wir hatten Angst vor Ratten und Wasserratten, sonst konnte unsern Schlaf nichts stören. Wir schliefen, wie es kam und wo wir müde wurden. In Ruinen, Scheunen oder im Freien. Und dann kamen die ersten Nachtfröste …“

(Aus „Wolfskind Traute“ von Gertraud Gross. Herausgegeben von Dodo Wartmann als ein Projekt der Künstlergruppe GamY, Verlag epubli GmbH, Berlin, ISBN 978-3-8442-1232-7.) R.G.


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