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05.05.12 / Wo vieles beim Alten geblieben ist / Eine Reise ins malerische Lemberg lohnt sich, aber die Fußball-EM könnte für die Ukraine zum politischen Reinfall werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-12 vom 05. Mai 2012

Wo vieles beim Alten geblieben ist
Eine Reise ins malerische Lemberg lohnt sich, aber die Fußball-EM könnte für die Ukraine zum politischen Reinfall werden

Die Ukraine kommt über dem Timoschenko-Drama nicht zur Ruhe. Gerade hat die EU das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine auf Eis gelegt und Bundespräsident Joachim Gauck eine Einladung zu einem Präsidententreffen auf der Krim ausgeschlagen. Für ihre Leser stattete die PAZ während des orthodoxen Osterfestes der alten galizischen Hauptstadt Lemberg einen Besuch ab – die Weltkulturerbe-Metropole ist eine der Austragungsorte der Vorrundenspiele.

Dass Polen EU-Mitglied ist, die Ukraine indessen nicht, wird in diesen Tagen auch am Stand der EM-Vorbereitungen deutlich. Während Breslau, wo auch gespielt werden wird, seinen aus preußischer Zeit stammenden Hauptbahnhof kürzlich aufwendig saniert hat, ist die letzte Renovierung des Lemberger Bahnhofs beinah zehn Jahre her. Die Hauptstraße ist eine Holperpiste und kann derzeit aus Richtung Stadt nicht passiert werden, weil das Pflaster der Kreuzung davor aufgerissen ist. Von irgendwelchen Verkehrs-Infrastrukturmaßnahmen im Zuge der EM ist nichts zu bemerken. „Euro 2012 – wir arbeiten daran“, liest man auf einem Reklameplakat am Bahnhof, das einen rackernden Bauarbeiter zeigt. Landesweit sind statt der geplanten 3500 Kilometer Autobahn nur 250 fertig geworden. Hinter vergleichbaren polnischen Städten hinkt das ukrainische Lemberg 20 Jahre hinterher.

Die Arena Lwiw ist eine der vier ukrainischen Austragungsorte während der am 8. Juni beginnenden EM. In dem eigens für das Fußball-Spektakel errichteten Stadion mit einer Kapazität von nur 34000 Zuschauern – das kleinste der neuen Stadien sowohl im Landesvergleich als auch im Vergleich zum Mitausträgerland Polen – finden drei Spiele der Vorrunde statt. Hier läuft die deutsche Nationalelf am 9. Juni zu ihrem ersten Spiel auf – gegen die Portugiesen. Ende Oktober vergangenen Jahres als letztes in der Ukraine unvollendet eingeweiht, zeigt der schmucklose Koloss am Stadtrand noch heute Baustellencharakter. Die Zufahrtsstraße war Mitte April nicht geteert, die Fußwege nicht fertig gepflastert, die Monitore über den Kassen leere Höhlen, die ungestalte Umgebung von Müll übersät. Fußballfans erwartet in jedem Fall ein unkonventioneller Gastgeber.

Wenn es um Städtereisen geht, hat kaum jemand Lemberg auf dem Schirm. Doch der Tourist sollte sich keinesfalls von ersten Eindrücken abschrecken lassen. Denn die heimliche Hauptstadt der Ukraine ist für Kulturfreunde und Neulandentdecker ein echter Geheimtipp. Das 756 Jahre alte Schmuckstück unweit der Grenze zu Polen erscheint dem Besucher als ein geschlossenes architektonisches Ensemble, das mit Bauten der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und des Jugendstil noch ganz das Bild einer Stadt aus der Vorkriegszeit bietet. Entstellende Hochhäuser und Wohnblocks aus der Retorte kommen im ganzen Umkreis der Innenstadt praktisch nicht vor. Das Auge will sich beim Wandern durch das hügelige Stadtgebiet, ähnlich wie Rom auf und zwischen sieben von ihnen errichtet, nicht satt sehen an der Pracht der k.u.k Bauten rund um den zentralen Freiheitsboulevard, der heute Brennpunkt des Nationalgefühls der Westukrainer ist, an der Ordnung der Bürgerhäuser am Marktplatz sowie den mit reicher Putz-Ornamentik verzierten Fassaden der Gründerzeitviertel. Unerwartete Perspektiven eröffnen sich durch Straßenbiegungen, Prospekte, Plätze, Denkmäler, weitläufige Parkanlagen. Mehr als die Hälfte der Architekturdenkmäler der riesigen Ukraine birgt das alte Leopolis, das als Lwów die längste Periode seiner Geschichte zur polnisch-litauischen Rzeczpospolita gehörte.

Wer je in Paris war und am Friedhof Père Lachaise Gefallen gefunden hat, der wird sich für den Lytschakiwski-Friedhof einige Stunden Zeit nehmen. Die berühmte Nekropole ist als historisch-architektonisches Denkmal ein Muss für jeden Kulturinteressierten.

„Ich schließe die Augen und höre die Lemberger Glocken läuten; jede läutet anders“, schrieb der polnisch-jüdische Autor Józef Wittlin 1946 aus dem New Yorker Exil über „Mein Lemberg“ – eine auch nach über 50 Jahren noch lesenswerte Hommage an die alte galizische Vielvölkerstadt. Die Zahl der Kirchen ist Legion, über 100 aller Konfessionen dienen den 734000 Einwohnern zu Sammlung und Gebet, und die Glocken läuten in der Hauptsache uniert griechisch-katholisch, russisch-orthodox und römisch-katholisch. Im engeren Altstadtkreis liegen die Gotteshäuser dicht an dicht. „Die Bernhardinerkirche könnte als die schönste in Lemberg gelten, hätte sie nicht ein halbes Dutzend Konkurrenten“, ironisierte Wittlin milde.

Überhaupt, der Glaube. Während der atheistischen Diktatur des Sowjetkommunismus hielt die ukrainische Kirche sich im Untergrund tapfer aufrecht und musste nach der Unabhängigkeit des Landes vor 20 Jahren nicht bei Null beginnen. Der Karfreitag ist nicht arbeitsfrei, doch die Gläubigen stehen in sich windenden Schlangen vor den Kirchen an, um eine Nachbildung des Turiner Leichentuches Christi zu küssen – hier am belebten Galizischen Platz vor dem prächtigen barocken Gotteshaus wie vor allen Tempeln des ostkirchlichen Ritus. Am späten Karsamstag scheint die halbe Stadt der bevorstehenden Osterfeierlichkeiten wegen auf den Beinen, um die Osterkörbe von den Priestern segnen zu lassen. Im Nieselregen stehen sie da, die Familien mit Kindern, die jungen Ehepaare, die alten Weiblein, festlich herausgeputzt, vor den Kirchenportalen, den noch mit einem bestickten Tuch bedeckten Osterkorb vor sich; nach altem Brauch angefüllt mit gekochten Eiern, Wurst, Aufschnitt, Käse, Quark, Meerrettich, Salz und dem in der Form an einen Pilz erinnernden, süßen Osterbrot, dem Paska. Am Ostersonntag nach der Liturgie mit seinen freudigen Wechselrufen „Christus ist auferstanden“ – „Er ist wahrhaft auferstanden“ werden die Speisen in der Familie verzehrt. Dass die Feier der Auferstehung auch im Bewusstsein der Gläubigen das größte Fest der Christenheit ist, illustriert eine Beobachtung in der Straßenbahn: Passierte diese an jenem Tag eine Kirche, hoben manche Fahrgäste kurz Kappe oder Hut oder schlugen ein Kreuzzeichen.

„Gott der Polen, Ukrainer, Armenier, Gott der Lemberger Juden, die völlig ausgerottet wurden! Ohne Ende könnte ich die heiligen Stätten aufzählen, die man Dir so großzügig in dieser Stadt errichtet hat, doch die Zeit drängt zu weltlicheren Dingen.“ Dem Drängen Wittlins wird der Flaneur gerne nachgeben und es sich in einem der unzähligen Cafés am Marktplatz wohl sein lassen: Lemberg ist seit der österreichischen Zeit für seine Kaffeehäuser bekannt, die – eine örtliche Besonderheit – nichts als Kaffee mit ein paar Süßigkeiten offerieren. Der Kaffee wird traditionell in einer Turka gebrüht, einem nach oben enger werdenden offenen Gefäß mit langem Handgriff. In kleinen Tassen serviert, ist schon der Duft des starken „Tür­kentranks“ ein Genuss.

„Was Sie vor einer Ukraine-Reise wissen sollten“: Dieser Tage wartete das Magazin „Stern“ mit Reisetipps für Touristen und reichlich alarmistischen Warnungen auf. „Wo lauern weitere Gefahren?, Was muss ich bei der Zimmersuche beachten?“ Preiswerte Zimmer seien „in der Tat ein Problem.“ Den lieben Kollegen von der Konkurrenz sei eine gründlichere Recherche empfohlen: Bei exakt zwölf Euro pro Nacht in einem einfachen Zimmer eines großen Hotels, einen Steinwurf vom Opernhaus entfernt, kann man nicht meckern. Christian Rudolf


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