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19.05.12 / Am Zaun / Aus den »Spaziergängen einer Ostpreußin« von Agnes Miegel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-12 vom 19. Mai 2012

Am Zaun
Aus den »Spaziergängen einer Ostpreußin« von Agnes Miegel

O sanfter süßer Hauch!“ Ja, heute kann man es wirklich sagen. Ganz plötzlich, nicht über Nacht, sondern mit dem Wind, der nach Südosten umsprang, ist es gekommen. Die Knospen an dem alten Ahornbaum überm Wasser schwellen zusehends, drei Stare, glänzend wie Spielhähne, fliegen um den Nistkasten, schmelzend und lieblich, noch ganz kurz klingt ihr flötender Ruf durch die feuchte Luft, wie die Stimme des Frühlings selbst. Ein fremder, weicher Duft kommt mit warmem stoßweisem Wind. Es ist nicht der Duft von Veilchen und jungem Laub, wie ihn der Frühlingswind in Thüringen und im Weserland bringt, nicht das heiße Föhnbrausen, das über Süddeutschlands blühende Talwiesen streicht, in dem noch ein Hauch von schmelzendem Schnee zu spüren ist. Unser Frühling kommt nicht von den Alpen, nicht über den Ozean, er kommt von Südosten her von den endlosen Steppen, und etwas von ihrem Licht, ihrer Unendlichkeit, von dem rasenden kurzen Überschwang ihrer Blüte kommt mit ihm. Und wir sehn in die Welt, die endlose, von dem flimmernden Frühlingsdunst erfüllte Welt des Ostens, wie wir als Kinder von den Wällen über die besonnten Äcker draußen blick­ten.

Die Wälle sind gefallen, und Unerfreulichkeit steht an ihrer Stelle und harrt drauf, dass Ordnung wird, wo jetzt das Nichts ist, die Unfruchtbarkeit, zur Unfruchtbarkeit bestimmt, der Bauplatz in seiner ganzen Scheußlichkeit. Nur ein kleiner Schrebergarten predigt eindringlicher, dass wir im Schweiß unseres Angesichts die Erde bebauen sollen. Und man bewundert den Bienenfleiß, die Geduld, die diesen back­steinharten Boden bebaut und ihm Früchte abringt, die Liebe, die noch aus Kistenlatten eine kleine Laube zimmerte, ein Bänkchen mit einem Puppenbeet davor, auf dem zierlich gepflanzte Leberblümchen und Veilchen stehn, die Hoffnung, die das Kirschbäumchen mit den weißlich schimmernden Knospen pflanzte – hier, wo rechts und links, nackt, rot und scheußlich, die massige Wucht der Mietskasernen herankriecht, ihre Vorposten, die Zäune und Baracken, drohend vorschiebt.

Ein bisschen betrübt bin ich, dass ich zu einer Zeit vorübergehe, wo ich nicht die Besitzer sehe. Soviel erzählen diese Gärtchen, dass ich gerne ihre Gesichter sehen möchte. Denn diese haben welche. Im Gegensatz zu den Tausenden, die da vorüberhasten und in dem hellen klaren Frühlingslicht alle der wandelnde Beweis dafür sind, dass unser Volk „sein Gesicht verloren hat“ in einer viel tieferen schrecklicheren Bedeutung als es die chinesische Redensart meint. Oder liegt dieser Sinn jenem Ausdruck der uralten Weisen zugrunde? Da gehen sie vorüber, Männer und Frauen; zum größten Teil so elegant gekleidet wie wir es noch nie kannten, in den neuesten Frühlingsmoden, mit den spitzen Schuhen. All ihre Gesichter sind leer, leer, leer. Keine Maske ist so ausdrucks­los wie diese Züge, kein Stein so kalt wie diese Augen, kein Tier hat eine Stirn so stumpf wie diese Stirnen. Massenware sie alle in des Begriffs schlimmster Bedeutung, nur noch wie vollkommene Maschinen bewegt von der Heizung ihrer unkomplizierten Instinkte, umhergetrieben von der Gier nach dem, was ihnen als Genuss erscheint. So fern dem lebendigen Odem Gottes wie ein Auto.

So furchtbar ist kein Gespensterzug nachts an der Kirchhofsmauer wie diese Parade der Menschen ohne Seele im Mittagssonnenschein. Aber dann kommt etwas anderes. Eine alte Frau mit einem Bündel unterm Arm und einem Kapotthut – alles ist grünlich fadenscheinig, verwittert wie ihr Gesicht unter dem weißen Scheitel. Zwei vom Alter ausgefahlte Augen blicken geradeaus über einer Nase, deren edle Form die Jahre nur noch besser zeigen, ein zarter, heute noch zarter Mund atmet lächelnd die warme Luft. Gleich hinter ihr kommt ein alter Landmann in einer grauen Joppe, einen neuen Spaten in der einen Hand, den kleinen Enkel an der anderen. Ein paar freundliche graue Augen zwischen unzähligen Fältchen, ein Paar ganz genau solcher Augen, blank vor Sonne und Freude in einem Apfelblütengesicht.

Und dann ein blutjunger Mensch, den schönen schmalen Kopf auf dem kräftigen Hals, so edel getragen, wie ein Fohlen ihn trägt, das helle Licht der Klugheit auf der Stirn unter dem blonden Schopf – und ich weiß ihn wieder, den ewigen Trost, dass Gott den Menschen schuf nach seinem Bilde, dass jene andern wirklich nur der Spuk an der Kirchhofsmauer sind, der vergeht vor der Wirklichkeit des Morgen- und Abendglanzes, der mich aus den Augen dieser vier ansieht.

Ich weiß, ohne dass ich ihnen begegnete, ganz genau, wie die Menschen aussehen, die ihre Gärtchen hier auf dem dürrsten und härtesten Gelände anlegen, zwischen Mietskasernen und Baracken. Und weiß, dass dieser Boden, über den jetzt die Aprilsonne scheint mit östlich hellem Glanz und der heiße Südostwind weht, ihnen immer wieder alles geben wird, was der Schattenzug jener Ewig-Gierigen niemals kennt – Genügen, Zufriedenheit, Freude über einen aus eigner Kraft errungenen Erfolg. Ein Glück, so groß, dass einer oder die andere jener Schöngekleideten am Zaun stehn bleiben und wie Neck und Nixe fragen wird nach dem Weg zum Erlangen einer unsterblichen Seele.

(Am 29. April 1923 zuerst in der „Ostpreußischen Zeitung“ in Königsberg erschienen. Agnes Miegel erhielt dort im Alter von 41 Jahren durch Vermittlung von Freunden eine Arbeitsstelle.)


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