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26.05.12 / Restlos transparent, restlos zerredet / Die »Piraten« zerschellen an ihren eigenen Ansprüchen – Warum Berlin-Chef gehen musste

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-12 vom 26. Mai 2012

Restlos transparent, restlos zerredet
Die »Piraten« zerschellen an ihren eigenen Ansprüchen – Warum Berlin-Chef gehen musste

Hartmut Semken, bis vergangenen Mittwoch Vorsitzender der Piratenpartei Berlin, ist angeblich zurückgetreten, weil er auch solchen Parteimitgliedern das Recht auf freie Meinung einräumen wollte, die von anderen als „rechtsextrem“ eingestuft werden. Die wirklichen Auslöser sind jedoch Indiskretionen, Lügen und der dauernde Konkurrenzkampf bei der neuen Partei. Der Personalverschleiß, die schlechte Presse und das Ausbleiben eigener Programmatik nerven die Parteibasis.

„Das Schöne ist ja, dass die ,Piraten‘ Berlin keinen Vorsitzenden brauchen, um zu arbeiten. Von Krise keine Spur“, ließ der parlamentarische Geschäftsführer der Abgeordnetenhaus-Fraktion, Martin Delius, Parteianhänger über Twitter wissen. Doch so einfach lässt sich der Rücktritt von Hartmut Semken vom Vorsitz des wichtigen Landesverbandes Berlin kaum abtun.

Der Entwicklungs- und Projektingenieur hatte seit seiner Wahl Feinde. Erst im Februar hatte sein Vorgänger kurzfristig erklärt, nicht weiterarbeiten zu wollen. Für die gezielte Suche nach neuen Kandidaten blieb seither kaum Zeit und es sieht nicht so aus, als würde es den „Piraten“ nach Semkens Rück-tritt gelingen, sich aus der personellen Flaute zu manövrieren. Eine offizielle Krisenkonferenz gibt es nicht, doch eine Aussprache stünde dringend an. In einer Internetrunde sagte Semken nach jüngsten Äußerungen zu „Rechtsextremen“, er selbst würde heute vermutlich als Linksextremist eingeordnet.

Doch diese Aussagen des 45-Jährigen sind nicht Grund seines Rücktritts. Eine „gezielte Indiskretion“ Semkens brachte das Fass zum Überlaufen, so die „Piraten“-Internetpostille „Pirat Aktuell“. „Hartmut hätte nicht unabgesprochen während der nichtöffentlichen Vorstandssitzung am Donnerstag mit der Presse kommunizieren sollen“, so die Piratenpartei Berlin im Netz.

Auf diesem parteiinternen Treffen hatte Semken seinen Rück-tritt angeboten, den der Parteivorstand ablehnte. Doch bestand Einigkeit, dabei „keine persönlich gefärbten Aussagen mehr an die Presse zu geben“. Entgegen der Absprache schickte Semken noch aus der Sitzung eine Botschaft an Journalisten des „Spiegel“: „Der König ist nicht tot. Und weigert sich weiterhin, zurückzutreten.“ Das Magazin verbreitete die Nachricht, Semken leugnete, „gepetzt“ zu haben. Schließlich wurde Semken unglaubwürdig und ihm blieb nur noch der Abgang. Ihm und den Berliner „Piraten“ wird so ausgerechnet jene zum Selbstbild gehörende „Transparenz“ (Durchschaubarkeit) zum Verhängnis: Sie versprachen, die Öffentlichkeit immer über alle Parteivorgänge zu informieren, statt (wie die anderen Parteien) im Verborgen zu mauscheln. Semken musste eingestehen, „Fehler gemacht, den Landesvorstand belogen“ zu haben.

Semken ist nicht der einzige „Pirat“, der in den gefährlichen Zwiespalt von Anspruch und Wirklichkeit geraten ist. Bernd Schlömer, neuer „Piraten“-Bundeschef, zeigte sich am Wochenende überraschend zu Zugeständnissen beim Urheberrecht bereit – einem der wenigen Themen, zu dem die „Piraten“ bisher einen klaren Kurs fuhren. Das schafft Ärger an der Basis. In Berlins Landesverband steht indes das elitäre „LQFB“ statt der eigenen strukturellen Probleme auf der Tagesordnung. Das Kürzel verbirgt ein „Alleinstellungsmerkmal“, so das Eigenlob der Partei. Es geht um jene flüssige Rückmeldung („Liquid-Feedback“ oder kurz LQFB) von der Basis, mit der die Piraten andere Parteien auszustechen hoffen.

Die Voraussetzung ist totale Transparenz. Leider kann so kaum noch etwas entschieden werden, Politik gerät zur endlosen Selbstbeschäftigung, denn: Entscheidungsprozesse werden von den Führungspersonen lange vor dem Ergebnis öffentlich restlos zerredet. Nötig wären nichtöffentliche Kreise, in denen verschiedene Beschlussmöglichkeiten vorbereitet würden. Das würde das Piratenkonzept aus den Angeln heben. Dennoch: „Wir müssen uns anders organisieren“, fordert Semkens bisherige Stellvertreterin Christiane Schinkel. Die Landespartei weicht nur vorsichtig von der alten Linie ab, versucht den Spagat: „Nur gute Organisation und intensive Kommunikation – zwei Faktoren, die bisher offensichtlich zu kurz kamen – können den Landesverband Berlin weiter auf Kurs halten.“ Doch nutzen bundesweit nur 3600 von 30000 Piratenpartei-Mitgliedern LQFB.

So treten immer mehr die Probleme der vermeintlichen Sofortdemokratie ans Licht. Neumitglieder warten Monate auf ihren Zugang. Zudem können sich die „Piraten“ von dauernden Konkurrenzkämpfen und dem Mitteilungsdrang einzelner Spitzen nicht frei machen. „Die letzten Wochen haben uns viel Arbeit gemacht, die jetzt wegfällt“, beschwichtigt indes Schatzmeister Enno Park die Basis. Der „schreckliche Druck“, mit dem Semken sein Amt charakterisierte, verfliegt aber nicht so schnell.

Ein vorgezogener Landesparteitag im September soll die Fronten klären. Bis dahin will der Landesvorstand weiterarbeiten, „um in Ruhe Kandidaten für eine neu zu wählende Führung zu finden“, meldet „Pirat Aktuell“. Bezeichnenderweise kam diese Überzeugung im „informellen und somit nicht beschlussfähigen Treffen“ zustande. Dort entschied die Parteispitze (ganz still im Hintergrund, wie in den etablierten Parteien) auch, dass es zunächst im Viererteam weitergehen soll. Sverre Gutschmidt


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