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02.06.12 / Märchen missbraucht / Gebrüder Grimm als Medizin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-12 vom 02. Juni 2012

Märchen missbraucht
Gebrüder Grimm als Medizin

Noch haben nicht einmal die Bayreuther Festspiele 2012 begonnen, trotzdem sorgt die für 2013, das 200. Geburtsjahr des Komponisten Richard Wagner, geplante Neuinszenierung des „Ring der Nibelungen“ von Frank Castorf bereits für Schlagzeilen. Er wolle den „Ring“ als „Reise hin zum Gold unserer Tage – zum Erdöl“ in Szene setzen, so der Regisseur. Ob das Bühnenbild nun den Berliner Alexanderplatz „als postmodernen Sozialismus“ zeigt oder einen Ölturm in Aserbaidschan, dazu gibt es sich widersprechende Meldungen. Fakt ist, dass beide Ideen viel Kritik erhielten.

Aber Wagner ist nicht der einzige große Künstler, dessen Hinterlassenschaft interpretiert und vom ursprünglichen Werk völlig entfremdet wird. Ein weiteres Beispiel für die absolute Überinterpretation und Überfrachtung historischer Werke bietet „Die Märchen-Apotheke – Grimms Märchen als Heilmittel für Kinderseelen“, herausgegeben von Stephanie zu Guttenberg sowie kommentiert von Silke Fischer und Bernd Philipp. Dabei weist die Frau des Ex-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg in ihrem Vorwort ganz zu Recht darauf hin, was Kinder von Märchen alles lernen können. Nicht nur die Phantasie wird beflügelt, zumeist geht es auch um Freundschaft, innere Werte und die Kraft, sich nicht klaglos in sein Schicksal zu fügen. Sie spricht gar von der „glück-lichen Überwindung von Widerständen“ und harten Strafen für Bösewichte „als Sinnbild für Gerechtigkeit“.

Doch all das ist den an der „Märchen-Apotheke“ Beteiligten nicht genug und sie versehen die ausgewählten Märchen jeweils mit einer ihrer Meinung nach in die heutige Zeit übertragene Konfliktsituation und einem „Beipack-zettel“, der die erfolgreiche Anwendung des „Medikaments Märchen“ aufzeigt. So erfährt man beispielsweise vom dicken Ferdinand, der in der Schule von Klassenkameraden gemobbt wird. Das Märchen „Der Hase und der Igel“ sollte Kindern wie Ferdinand helfen, sich ihrer Situation bewusst zu werden. „Festigen Sie sein Selbstbewusstsein, indem Sie seine besondere Talente loben“, empfiehlt der „Beipackzettel“ den Eltern.

Auf die Problemstellung „Unser Kind fühlt sich in der neuen Patchworkfamilie nicht wohl“ wird dann „Aschenputtel“ vorgeschlagen. Bei „Aschenputtel“ ist der Prinz die Lösung und die Stiefmutter und Geschwister sind wirklich ziemlich böse, was also gewinnt ein Kind für positive Einsichten über die Stieffamilie bei „Aschenputtel“?

Ganz konstruiert ist der Fall „Unser Kind will nicht mehr zum Klavierunterricht und verschweigt uns, warum“. Wenn man weiß, dass Stephanie zu Guttenberg Präsidentin des Vereins „Inno-cence in danger“ ist, der sich um sexuell missbrauchte Kinder kümmert, dann ahnt man schon, in welche Richtung es geht: Nein, das Kind verweigert den Klavierunterricht nicht, weil es keinen Spaß hat, wie es öfter vorkommen soll, sondern weil der Klavierlehrer das Kind missbraucht. Für diesen doch eher seltenen, dafür aber sehr extremen Fall wird dann das Märchen „Allerleihrau“ als Medikament nahegelegt, was wiederum doch äußerst banal ist und den Märchensammlern Jacob und Wilhelm Grimm bestimmt niemals in den Sinn gekommen wäre.  Rebecca Bellano

Stephanie zu Guttenberg (Hrsg.): „Die Märchen-Apotheke: Grimms Märchen als Heilmittel für Kinderseelen“, Kösel, München 2011, gebunden, 240 Seiten, 19,99 Euro


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