19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
16.06.12 / Die Stimme der unruhigen sowjetischen Jugend / »Der Tod ist dafür da, um zu leben« – Die sowjetische Rock-Legende Viktor Zoj würde 50 Jahre alt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-12 vom 16. Juni 2012

Die Stimme der unruhigen sowjetischen Jugend
»Der Tod ist dafür da, um zu leben« – Die sowjetische Rock-Legende Viktor Zoj würde 50 Jahre alt

Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze“, sagt ein Sprichwort. Nicht so bei diesem Unsterblichen am Musikhimmel. Die „Omas aus Buranowo“, die beim jüngsten „European Song-Contest“ Russland vertraten, tischten seinen Hit „Ein Stern namens Sonne“ in poppigem Arrangement wieder auf. Seine gut mit der Gitarre zu begleitenden Lieder werden von Jugendlichen auf den Moskauer Protest-Demos gegen den neu-alten Präsidenten Putin gesungen, und der Song „Wir warten auf Veränderungen“ darf im weißrussischen Staatsrundfunk seit Jahren nicht gespielt werden. Keine russische Stadt, in der nicht sommers in den Parkanlagen junge Leute zusammensitzen und seine Texte schmettern. Sogar im weit entfernten Hamburg organisierten jugendliche russische Einwanderer an seinem 20. Todestag ein Gedenktreffen.

Es geht um den unvergessenen Viktor Zoj, einen sowjetischen Rock­star und Schauspieler der 80er Jahre mit Kultstatus. Am 21. Juni könnte er seinen 50. Geburtstag feiern, wäre er nicht am 15. August 1990 in der Gegend des lettischen Badeorts Jurmala am Steuer seines Moskwitsch 2141 bei nicht weniger als 130 Stundenkilometern eingeschlafen und in einen entgegenkommenden Bus gerast. So lautete jedenfalls die Version der Miliz – während jeder, der diesen ostigen Mittelklassewagen nur einigermaßen kennt, weiß, dass er nur mit Mühe auf 130 zu bringen ist. Bei dem dann ohrenbetäubenden Rumpeln und Poltern ist an Schlaf nicht zu denken. Gerüchte über einen Mordanschlag gegen den auf dem Höhepunkt seiner Popularität stehenden Frontmann der Gruppe „Kino“ verstummten nie. Die am meisten verbreitete Erklärung macht Glauben, Zoj sei abgelenkt gewesen, weil er eine Kassette im Recorder umdrehen wollte. In der Tat fand sich im Unglückswagen eine Studiokassette, dessen Aufnahmen im Dezember 1990 für einen sozusagen tönenden Nekrolog genutzt wurden: „Das Schwarze Album“ war der Titel der letzten Veröffentlichung Viktor Zojs, mit dem ein Künstler starb, der für den Glanz der sowjetisch-russischen Musikszene stand. Die Band „Kino“, ihres charismatischen russisch-koreanischen Sängers beraubt, zerfiel wie der Staat, dessen spezifische politisch-kulturelle Situation zur Perestrojka-Zeit ihren schwindelerregenden Erfolg möglich gemacht hatte.

In Dmitrij Schostakowitschs Memoiren ist es nachzulesen – dass Stalin im Januar 1936 mit seinem Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ die musikalische Moderne der Sowjetunion abwürgte und die Komponisten verpflichtete, „volkstümlicher“ zu schreiben. Die kuriose Konsequenz war, dass die klassische russische Volksmusik eine wohlklingende Fortsetzung in den Kompositionen von Matwej Blanter, Isaak Dunajewski und anderen fand. Selbst die ersten antistalinistischen Lieder der 60er Jahre von Wladimir Wysockij, Bulat Okud­shawas und anderen – unterlagen noch diesem Trend zum Wohlklang, der selbst die legendären Lieder der aus dem Gulag heimkehrenden Stalinopfer prägte.

In den frühen 80ern erfolgte die Wende zu expressiven Texten und Melodien, deren Symbolfiguren die Sänger und Songschreiber Viktor Zoj und Igor Talkow (1956–1991) waren. Talkow liebte noch schöne Melodien, die seinen anklagenden Liedern („Der blutige Henker Lenin band Russland in rote Lappen“) besonderes Flair verliehen. Trotz Gorbatschow und Ende der Sowjet­union glaubte Talkow nicht an eine grundlegende Wende. Im Oktober 1991 wurde er unmittelbar vor einem Konzertauftritt in Leningrad von bis heute unbekannten Tätern ermordet.

Anders Wiktor Zoj, hinter dem der legendäre „Leningrader Rock-Club“ stand, der die ganzen 80er Jahre über Heimstatt zahlreicher Rockbands und ihrer aufmüpfigen Musik war. Zoj betrachtete Wysockij als sein Vorbild und war mit Talkow gut bekannt, hatte aber künstlerisch mit beiden wenig zu tun. Leningrad, davor und danach Sankt Petersburg, ist laut Puschkin „Russlands Fenster nach Europa“, und wer ein Fenster aufstößt, wendet seinem Haus den Rücken zu. Ende der 70er Jahre begann Zoj seine musikalische Karriere mit seiner Gruppe „Kino“, zuständig für harten Rock, anfangs gefördert durch Boris Grebenschikow von der Gruppe „Aquarium“, die mit eingängigem Independent Lorbeeren erntete. Wenn Lieder oder Aufnahmen allzu harsch ausfielen, gab es unerwartete Ausweichmöglichkeiten. So flüchtete Zoj im Herbst 1983 für anderthalb Monate in eine Pariser psychiatrische Klinik, wo er heimischem Zensurstress und der Einberufung in die Sowjetarmee auswich. Im darauffolgenden Frühjahr trat er mit „Kino“ beim zweiten Festival des Rockclubs auf, wo er mit dem Lied „Ich erkläre mein Haus zur kernwaffenfreien Zone“ Triumphe feierte. 1987 erreichte „Kino“ mit ihrem siebten Album „Blutgruppe“ einen Riesenerfolg, der auch der endgültige Durchbruch des Rocks in der Sowjetunion war.

„Kino“ wurde vom KGB als „ideologisch schädliche Gruppe“ beargwöhnt, was Zoj wenig tangierte, da der Leningrader Rock-Club heimliche Beschützer wie KGB-General Oleg Kalugin hatte. Zoj und die Seinen profitierten von Gorbatschows Machtantritt 1985. „Wir warteten auf den Sommer, doch es kam Winter“, „Zum 100. Mal fällt das Brot runter mit der Butter nach unten“ oder „In unseren Augen – das verlorene Paradies / In unseren Augen – eine verschlossene Tür“ – Texte wie diese gaben der völlig enttäuschten, aller kommunistischen Illusionen beraubten Jugend jener Jahre Ausdruck und Stimme.

Anfang 1989 tourte „Kino“ erfolgreich durch die USA, und daheim eilten diese „Perestrojka-Beatles“ von Erfolg zu Erfolg, den größten erlebten sie am 24. Juni 1990 im Moskauer Luschniki-Stadion, wo man ihnen zu Ehren erstmalig seit 1980 die olympisch Flamme entzündete. Es war Zojs letztes Konzert.

„Zoj ist rechtzeitig gestorben, denn seine letzten Arbeiten waren schon schwächer als seine früheren, und sein weiteres Schaffen wäre noch schlechter geworden“, konnte man von Kritikastern nach seinem Tod hören. Aber Zoj lebt in seinen Texten und Liedern weiter, auch in Dokumentar- und Spielfilmen wie „Igla“ (Die Nadel), der ihm 1989 von der Zeitschrift „Sowjet-Bildschirm“ die Auszeichnung als bester Schauspieler des Jahres einbrachte. Wolf Oschlies/Christian Rudolf


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren