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07.07.12 / Sommerstille / Erster Besuch im Elternhaus des Vaters

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-12 vom 07. Juli 2012

Sommerstille
Erster Besuch im Elternhaus des Vaters

Ich sitze in der kühlen, dämmrigen Küche und zupfe Petersilie. Hühnersuppe will Halina heute auf den Tisch bringen. Während sie im Topf rührt und Tochter Ewa schon mal den Tisch deckt, sorge ich für frisches Kräuteraroma. Meine Blicke schweifen durchs Zimmer, halten sich fest am Geschirrschrank. Anrührend, ja, tröstlich wirkt er auf mich mit seinem hie und da abblätternden zartgrünen Anstrich und den altmodisch gerundeten Kanten.

Es ist der Schrank meiner Großmutter. Das einzige Möbelstück, das noch an sie erinnert. Sie selbst kenne ich nur von Fotos her, weiß aber, dass sie eine sehr kleine, zierliche Person gewesen ist. Und so versuche ich mir vorzustellen, wie meine Großmutter sich jedes Mal auf die Zehenspitzen gestellt haben muss, um die oberen Glastüren öffnen zu können.

Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Es ist nicht mein erster Besuch im ehemaligen Elternhaus meines Vaters. Vieles ist mir mittlerweile vertraut. Ich kenne die Geschichte der jetzigen Besitzer, komme eigentlich mit allen Familienmitgliedern gut aus, und doch fange ich plötzlich an zu fremdeln. Ich höre Halinas Schimpfen, als ihr heiße Suppe auf den Arm spritzt, höre das leise Klappern von Tellern und Besteck. Ich weiß, ich bin nicht allein. Trotzdem fühle ich mich einsam, ausgegrenzt.

Liegt es an der Mittagsstille im Hause, dieser trägen Stille, die Gedanken und Gefühle keimen lässt, die die Geschäftigkeit des Tages sonst gut zu unterdrücken weiß? Vielleicht liegt es aber auch an den Fenstern, die nach Norden hinausgehen und so nur ein kühles, spärliches Licht hereinlassen? Irgendetwas muss ihn ja hervorgerufen haben: den Schatten auf meiner Seele. „Noch halbe Stunde, dann gibt Essen!“ Halinas Stimme schafft Wirklichkeit. Ihre fröhlichen Haselnussaugen strahlen mich an: „Als Nachtisch gibt Obst, selbst eingemacht!“

Ich ringe nach Luft, spüre, dass ich in diesem Moment nicht so reagieren kann, wie Halina es von mir erwartet. Und so flüchte ich mich mit einer gemurmelten Entschuldigung hinaus ins Freie. Wärme und Helligkeit empfangen mich. Aufatmend setze ich mich auf die ausgetretenen Treppenstufen vorm Haus und schlinge die Arme um meine Knie.

Eine weite, lichtdurchflutete Landschaft bietet sich meinen Augen dar. Sonnenbeglänzt und von Stille getragen, wellt sie sich im sanften Auf und Ab der Kuppen und Senken dem Horizont entgegen. Mein Herz weitet sich. Schatten schwinden.

Ich will nur noch schauen. Das Haus steht auf einer Anhöhe, und so habe ich eine herrliche Rundsicht. Ich schwelge im satten Grün der Wiesen, berausche mich am endlosen Himmelsblau. Und spüre die tiefe Verbundenheit mit eben diesem Landstrich, der sich schon bei meinem allerersten Besuch meine uneingeschränkte Liebe erwarb. Ein leiser Wind trägt den Duft von Heu und frischen Kräutern heran. Er liebkost mein Gesicht, will mit mir spielen. Ich springe auf. Ja, ich will es spüren: das sonnenwarme Gras unter meinen Füßen, den Wind, der mir durchs Haar fährt. Ich streife mir die Sandalen ab und laufe los. Über den ungepflasterten Hof, vorbei an Weidezäunen und Buschwerk, hinaus in diese grüne Sommerherrlichkeit! Es ist kein Gedanke in mir, nur die Lust am kitzelnden Gras unter den Fußsohlen, die Seligkeit, sich frei wie ein Kind zu fühlen. Irgendwann werde ich langsamer, lasse mich ins weiche Wiesenbett fallen, stumpfsinnig beäugt von den wenigen Kühen, die hier grasen.

Nirgendwo sonst hätte ich einen solch wilden Lauf gewagt. Der Gedanke, sich lächerlich zu machen, wäre dagewesen; auch die Sorge, auf eine tierische „Hinterlassenschaft“ oder eine Scherbe zu treten. Aber hier, auf dieser Weidefläche, über die schon mein Vater barfuß gelaufen ist, hier bin ich über meinen Schatten gesprungen.

Später, als ich heiter und gelöst vor meinem Teller Hühnersuppe sitze, lasse ich meinen Blick minutenlang auf dem großmütterlichen Schrank ruhen. Ich horche in mich hinein – und finde Frieden. Das Wissen um Vergangenes – es birgt in sich keine Schwermut mehr. Renate Dopatka


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