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07.07.12 / Die Chance, Teil der Gesellschaft zu sein / Behindertenwerkstätten arbeiten oft eng mit der Wirtschaft zusammen und stützten sogar den »Standort Deutschland«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-12 vom 07. Juli 2012

Die Chance, Teil der Gesellschaft zu sein
Behindertenwerkstätten arbeiten oft eng mit der Wirtschaft zusammen und stützten sogar den »Standort Deutschland«

Es sind keineswegs nur bemalte Postkarten oder bunte Kerzen, die in Behinderten­werkstätten ge­schaffen werden. Oft arbeiten die Betriebe der besonderen Art auch Unternehmen aus der freien Wirtschaft zu.

„Und, und weißt du, was das hier heißt“, ein wenig atemlos vor Aufregung wirbelt der 23-jährige Gabriel mit seinen Händen durch die Luft, macht verschiedene Bewegungen mit Armen und Händen und grinst danach breit. „Das heißt ,Hooochzeit maachen‘“, beantwortet er selbst die von ihm gestellte Frage. Seit der bei seiner Geburt mit zu wenig Sauerstoff versorgte und seitdem geistig behinderte Gabriel einen gehörlosen Kollegen bei sich in der Behindertenwerkstatt hat, freut er sich jeden Tag darauf, neue Zeichen aus der Gebärdensprache zu lernen. Der sehr kontaktfreudige junge Mann lebt noch bei seinen Eltern daheim, geht aber ganz regulär jeden Tag zur Arbeit. Was er genau macht, ist ihm nicht so wichtig, er ist einfach nur froh, soziale Kontakte und einen festen Tagesablauf zu haben. Andere seiner Kollegen hingegen gehen voll in ihrer Arbeit auf. Da die Elbe Werkstätten GmbH in Hamburg zahlreiche Arbeitsbereiche anbietet, können die Behinderten nach Interessenlage und Fähigkeiten aus vielen Möglichkeiten wählen. Von der Verpackung von Waren und dem Bau von Möbeln in der Tischlerei über die Bearbeitung von Metall und Elektroarbeiten bis zu Näherei, Druckerei, Buchbinderei, Digitalisierung, eigenem Supermarkt, Fahrradwerkstatt, mehreren Cafés, Gartenbau und Töpferei ist alles dabei. Etwa 3000 Werkstattplätze bietet die Elbe Werkstätten GmbH.

Allerdings sind die unter dem Dach der 1975 gegründeten „Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen“ zusammengefassten Betriebe, die deutschlandweit fast 300000 Menschen mit Behinderung beschäftigen, keine normalen Unternehmen, auch wenn sie sich als solche präsentieren. Nicht das wirtschaftliche Ergebnis, sondern berufliche und persönlichkeitsbildende Förderung sowie Integration der Behinderten stehen im Vordergrund. Das sieht man auch daran, dass Behindertenwerkstätten, die mindestens 70 Prozent der erwirtschafteten Einnahmen an ihre Mitarbeiter auszahlen müssen, diesen 2010 im Durchschnitt nur 179,38 Euro pro Monat überweisen konnten. Die Kosten für die Räumlichkeiten, die den Menschen mit Behinderung angepass­ten Werkzeuge und Maschinen sowie die Betreuer, die offiziell „Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung“ genannt werden und die Mitarbeiter ausbilden und fördern, übernimmt der Staat. Zudem haben die Werkstattbeschäftigten einen vollkommenen Kündigungsschutz, ihre Beschäftigung hängt nicht von ihrer Leistungsfähigkeit ab.

Für jeden behinderten Werkstattmitarbeiter eine Aufgabe zu finden ist nicht immer einfach. Denn so vielfältig wie die Tätigkeitsfelder, auf denen die Werkstätten aktiv sind, so vielfältig sind auch die Handycaps der Beschäftigten. In Hamburg haben 58 Prozent der Mitarbeiter eine geistige Behinderung, 15 Prozent eine Lernbehinderung, vier Prozent eine Sinnesbehinderung, sieben Prozent eine Körperbehinderung, 16 Prozent eine psychische Behinderung und 23 Prozent gelten als mehrfach behindert. Doch das sind nur Zahlen, die nicht erfassen, dass es allein bei den geistig Behinderten eine riesige Bandbreite der Schweregrade gibt. Und es ist nicht auszuschließen, dass zum Beispiel so mancher geistig absolut fitte Gehbehinderte im Rollstuhl manchmal die geistig behinderten Kollegen als Bremser empfindet, da sie eben eine ganz andere Ansprache benötigen und ein ganz anderes Tempo an den Tag legen. Hier müssen die Betreuer ausgleichen, zumal den betrieblichen Kunden auch hohe Qualität und pünktliche Lieferung versprochen wird.

Einer der berühmtesten Großkunden von Behindertenwerkstätten ist die Firma Puky. Der Hersteller von Kinderfahrrädern und Rollern kann laut einigen Medienberichten nur vollständig am Standort Deutschland produzieren, da er die Kostenvorteile von Behindertenwerkstätten nutzt, denn das Entgelt für das Arbeitsergebnis von behinderten Mitarbeitern ist deutlich niedriger. Hinzu kommt, dass das Volumen der Aufträge an Behindertenwerkstätten zur Hälfte auf die Ausgleichszahlungen angerechnet wird, die Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern zahlen müssen, wenn sie die Quote von fünf Prozent Behinderten an der Belegschaft nicht erfüllen. Außerdem zahlen die staatlich ohnehin schon subventionierten Behindertenwerkstätten nur den ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent.

Puky spare auf diese Weise zwischen 35 und 40 Prozent der Montagekosten, heißt es, auch wenn die Arbeit natürlich nicht immer so rund läuft, wie in normalen Betrieben, schließlich sind die dort beschäftigten Menschen offiziell erwerbsunfähig. Doch da Puky seit 30 Jahren mit Behindertenwerkstätten zusammenarbeitet, habe man sich inzwischen auf die jeweiligen Bedürfnisse eingestellt. Extra erdachte Spezialarbeitsplätze und Spezialarbeitsschritte machen es möglich. Seit einiger Zeit arbeiten sogar Behinderte direkt in den Betriebshallen von Puky in Wülf­rath nahe Wuppertal zwischen nichtbehinderten Arbeitern und Produktionsrobotern.

Wie bunt und vielfältig die Angebotspalette deutscher Behindertenwerkstätten ist, darüber können sich Verbraucher, aber auch Betriebe jedes Jahr in Nürnberg auf der Werkstätten-Messe informieren. Die nächste ist vom 14. bis 17. Juni 2013. Rebecca Bellano


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