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07.07.12 / Kafka lässt grüßen / Bildungsroman aus England

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-12 vom 07. Juli 2012

Kafka lässt grüßen
Bildungsroman aus England

„Dr. Learmont, frisch zugelassener Arzt für die Bezirke West Masedown und New Eliry, schwankt und schaukelt auf dem Vordersitz eines Einspänners, der über den sanft abfallenden Weg auf das Haus Versoie zurollt.“ Auf dem südenglischen Landsitz Versoie soll das zweite Kind des Besitzerehepaars zur Welt kommen, auch transportiert der Arzt Materialien aus der Stadt für den Besitzer Mr. Karrefax, der unter anderem mit Funktelegrafie experimentiert. Man schreibt das Jahr 1898. So beginnt der neue Roman „K“ von Tom McCarthy. Der 1969 geborene Autor und Dozent McCarthy gehört zu den erfolgreichsten eng­lischen Schriftstellern der letzten Jahre. Sein erster Roman „Remainder“ (deutsch: „8,5 Millionen“) war 2005 ein preisgekrönter internationaler Bestseller und wurde verfilmt. 2010 erschien sein dritter Roman „C“ im englischen Sprachraum. Inzwischen liegt das für den „Booker Price“ gelistete Buch unter dem Titel „K“ in deutscher Übersetzung vor. Romanheld Serge Karrefax kommt 1898 mit einer „Kappe“ auf dem Kopf zur Welt, der Fruchtblase, was angeblich Glück verheißt. Sein Vater leitet eine Tagesschule für Gehörlose und ist leidenschaftlicher Erfinder, während seine Mutter eine Seidenraupenzucht mit Weberei in hugenottischer Tradition betreibt. Serge und seine hochbegabte, fünf Jahre ältere Schwester sind sich weitgehend selbst überlassen. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, in denen vier Lebensabschnitte des Protagonisten Serge aufgerollt werden: seine Kindheit, eine Behandlung in einem tschechischen Kurort, der Erste Weltkrieg und schließlich die Nachkriegszeit, in der eine traumatisierte junge Generation sich auslebt, mit freizügigem Sex und grenzüberschreitenden Erfahrungen durch Drogen und Séancen. Serge nimmt an der experimentellen Erforschung der drahtlosen Informationsübertragung teil.

Man kann diese ungewöhnliche und zunehmend unheimliche Geschichte mit Gruseleffekten als einen Bildungsroman aus dem beginnenden Technologiezeitalter auffassen, dessen Fachwissen aber nur den Hintergrund für ein Verwirrspiel bildet, in dem Serge Karrefax vermutlich steckt und das für ihn im Alter von nur 24 Jahren einen tödlichen Ausgang nimmt. Ebenfalls spielt der Autor mit der Neugier seiner Leser, die unweigerlich so etwas wie eine geheime Botschaft hinter dem Handlungsablauf vermuten. Durch den Buchstaben K werden Hinweise gestreut, um ein Rätselraten zu provozieren. Mit der Zeit erweist sich das jedoch als ein Ballast der Lektüre.

Eines ist sicher: Serge, dessen Gefühle und Gedanken der Autor verborgen hält – das gilt übrigens für alle Romanfiguren –, wird geplagt von einer zunehmend negativen, morbiden Gemütsverfassung. So schreibt er kurz vor seinem Tod auf einem Nildampfer „Bin nicht“ in sein Notizbuch, nachdem er „Binda“ ausgestrichen hat. Im Fieberwahn hat er die Vorstellung, sich in ein Insekt zu verwandeln, das ihn kurz vorher in einer ägyptischen Grabkammer durch einen Stich tödlich infiziert hat; „Die Verwandlung“ von Franz Kafka lässt grüßen. Ist die Assoziation von „K“ mit Franz Kafkas Landvermesser K. in dessen Roman „Das Schloss“ schon von vornherein unvermeidbar, so wird sie durch dergleichen Parallelen noch gestärkt, und auch, weil Serge Karrefax 1922 stirbt, im Jahr also, in dem der Roman „Das Schloss“ entstand. Das ist ein bisschen viel, man könnte es auch eine Überfrachtung nennen. Schade um viele wirklich faszinierende Ideen und ihre ansonsten gelungene Umsetzung. Dagmar Jestrzemski

Tom McCarthy: „K“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, geb., 473 Seiten, 24,99 Euro


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