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07.07.12 / Der Familie beraubt / Umfassende Dokumentation des Schicksals der Wolfskinder

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-12 vom 07. Juli 2012

Der Familie beraubt
Umfassende Dokumentation des Schicksals der Wolfskinder

„Ich möchte nicht sterben, aber ich bin so müde, ich möchte sterben. Ich möchte ja nicht sterben, aber ich habe so einen Hunger!“ Bis heute verfolgen diese Worte, die ihr jüngerer Bruder Rudi während der Flucht 1945 immer wiederholt hat, die 1933 in Königsberg geborene Eva Bris­korn. Ihr fünfjähriger Bruder Siegfried war zuvor von einem Lkw der Roten Armee überrollt worden, auch Manfred verhungerte, während die Mutter immer wieder von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde und verzweifelte, weil sie hilflos mit ansehen musste, wie ein Kind nach dem nächsten starb. Am Ende wird Eva auch noch von ihrer Mutter und einzig noch lebenden Schwester getrennt und muss sich alleine durchschlagen. Kinder wie Eva, die nach Verlust, Tod oder Deportation der Mutter, die Väter waren meist im Krieg, sich alleine durchschlagen mussten, nennt man Wolf­skinder.

Geschichten wie diese gibt es in „Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen“ von Sonya Winterberg in erschreckender Fülle. Die Autorin hat sich mehrere Jahre mit dem Thema beschäftigt, viele Zeitzeugenberichte gelesen, aber auch zum Teil in Begleitung der Fotografin Claudia Heinermann inzwischen alt gewordene Wolfskinder besucht. Winterberg, die schon zusammen mit ihrem Mann Yuri das Buch „Kriegskinder. Erinnerungen einer Generation“ veröffentlicht hat, ist zu bewundern, da sie angesichts so vieler grausamer Schicksale nicht verzweifelt ist. Wer aber ein ähnliches Schicksal erlitten hat, sollte sich genau überlegen, ob er sich „Wir sind die Wolfskinder“ auch wirklich zumuten möchte, denn im Grunde ist jedes der vielen geschilderten Schicksale schon allein für sich genommen schwer zu verkraften.

Winterberg erzählt die Geschichte der Wolfskinder chronologisch in Etappen: erst das Kriegsende, dann der Kampf ums Überleben mit und später ohne Erwachsene, die Suche nach Nahrung in Litauen, da das zerstörte Ostpreußen ausgeplündert ist, das Betteln bei Litauern, die Aufnahme als Magd oder Hütejunge, manchmal sogar als Familienmitglied, das Erwachsenwerden mit Familiengründung und die Suche nach der deutschen Identität im Alter und nach dem Ende des Kalten Krieges. Diese Aufteilung bietet den Vorteil, dass der Leser jede Etappe vertieft präsentiert bekommt, aber sie hat auch den Nachteil, dass die Schicksale der verlassenen Kinder immer wieder unterbrochen werden. Und da es mehrere Evas, Christels und Kurts gibt, weiß man manchmal nicht mehr, welches zuvor angerissene Schicksal zu wem gehört.

Die in der Mitte des Buches abgedruckten Bilder einiger Wolfskinder heute zeigen vom Leben stark gezeichnete Gesichter. Im Grunde blickt nur die 1940 in Schwesternhof geborene Luise Quitsch, Vorsitzende des Vereins „Edelweiß“ der Wolfskinder in Litauen, frisch und entspannt in die Kamera. Sie hatte das Glück, von einer bildungsbewussten litauischen Mittelschichtsfamilie adoptiert zu werden. Fortan ist sie Litauerin, bekommt eine gute Ausbildung und eine gute Arbeitsstelle. Erst viele Jahre später erinnert ein Hampelmann in einem Schaufenster Luise, die schon lange Alfreda Kazukauskiene heißt, an ihre deutsche Kindheit. Sie nimmt Kontakt zu anderen Wolfskindern auf und erfährt, wie diese verlaust und hungernd sich von einem Hof zum anderen durchgeschlagen haben, oft geschlagen wurden, in Ställen hausten und keinerlei Bildung erhielten, so dass sie Analphabeten und Hilfsarbeiter blieben. Auch nimmt sie Kontakt zu ihren Geschwistern in Deutschland auf, von denen sie während der Flucht getrennt wurde und die mit ansehen mussten, wie die Mutter von Soldaten der Roten Armee erschossen wurde.

Anrührend und traurig zugleich ist der Bericht über Christel Scheffler, die einst über das Ostpreußenblatt Kontakt zu ihrem Stiefbruder erhielt. Dieser platzte schier vor Glück, als er erfuhr, dass die süße, blonde Kitty von einst, die er längst für tot gehalten hatte, noch lebte. Die im Buch abgedruckten Briefe von ihm lassen einem das Herz aufgehen. Doch nicht jeder reagierte so. Andere Geschwister waren gar nicht froh, als sich nach der Wende 1990 die tot geglaubten Geschwister aus Litauen bei ihnen meldeten. Sie fürchteten, dass die armen Verwandten nur Geld von ihnen wollten und die längst verdrängte Vergangenheit wieder aufgerollt werden würde.

Winterberg dokumentiert die vielen Aspekte des Schicksals der Wolfskinder ansprechend. Allerdings stört es, dass sie ihre Distanz zum Ostpreußenblatt hervorhebt, dabei hat gerade die Landsmannschaft Ostpreußen Spenden gesammelt und viel getan, damit Wolfskinder Verwandte wiederfinden. Rebecca Bellano

Sonya Winterberg: „Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen“, Piper, München 2012, gebunden, 334 Seiten, 19,99 Euro


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