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14.07.12 / Nimm drei / Überfluss bereitet Entscheidgunsstress

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-12 vom 14. Juli 2012

Nimm drei
Überfluss bereitet Entscheidgunsstress

Nimm drei, bezahl zwei. Aber ich brauche nur eine neue Zahnbürste, und weil ich keine Großfamilie habe, sondern nur einen „Single-Haushalt“, entscheide ich mich für den teureren Kauf eines Exemplars. Auch das ist nicht einfach bei der Vielfalt eines so eindeutigen Funktionsgegenstandes: Mit Gelenk im Stiel, harten, weichen Borsten, kurzen oder langen. Vielleicht mit verstärkter Mitte?

Im Tagebuch von Klemperer lese ich, 1942, also vor siebzig Jahren: Befehl, beim Kauf einer neuen Zahnbürste die alte abzuliefern. Klorollen, so es denn mal welche gibt, werden nur einzeln abgegeben. Dabei hatte man sich gerade an sie gewöhnt, nach den geschnittenen Zeitungspapier-blättchen auf dem Örtchen. Heute, nimm drei Pakete mit je zehn Rollen und bezahl zwei. Mit und ohne Düfte erhältlich. Mit einem Bahnticket für 27,50 Euro können fünf Personen gemeinsam in den Harz fahren, fahre ich allein, bezahle ich etwa 50. Manchmal frage ich mich, ticke ich nicht mehr richtig oder verstehe ich die Welt nicht mehr und verstehe nur immer Bahnhof.

Weiter lese ich über den Mangel an Brot und Lebensmitteln überhaupt. Kenne ich. Brot! Es fehlt immer und da war es gut, dass Mutter nicht rauchte und ihre Rauchermarken gegen welche für Brot eintauschen konnte. Wir waren alle mager wie die Hungerleider, nur der Bauch war prall und der Rock dadurch vorn kürzer als an den Seiten. Kartoffelbäuche eben. Das gewünschte Idealgewicht von heute war leicht zu erreichen und zu halten. Immer diese Gier nach Essen, immer dieses unwürdige Suchen danach und „Mundraub“ begehen. All das kommt mir in dieser Zeit des Überflusses in den Sinn.

Anfangs der dreißiger Jahre kam das Verreisen in Mode, „Kraft durch Freude“, genannt. Auch die ersten Busreisen begannen damals. Der einfache Mensch sollte auch was von der Welt sehen und sich erholen. Wir, die wir lasen und die Neuerung der Leihbibliotheken in Anspruch nahmen, wussten, dass die begüterten jungen Leute nach beendetem Studium auf die Grand Tour gingen, ausgestattet mit genügend Kapital und einem Diener. Gott, wer wollte das nicht auch. Keine Chance! Wer wollte sich nicht bilden? Wenn ich beim Lesen ertappt wurde zu einer Zeit, in der man Pflichten zu erfüllen hatte, gab es eine Rüge: Hast du nichts Besseres zu tun? Eigentlich nicht, hätte ich gern geantwortet, aber das war undenkbar. Und irgendwie hatten sie ja auch recht, das Leben war schwer damals und etwas gab es immer zu tun. Dabei gab es noch so viel weiße Flecken auf dem Globus, über die man noch nichts wusste. Da war es kein Wunder, dass nach Kriegsende der Mensch gleich ins volle Leben eintauchen wollte. Am liebsten im eigenen Auto.

Es gab damals einen Liedermacher, ich glaube er hieß Richard Germer, der sang: „Mensch, kauf‘ dir‘n Auto, sagt mein Freund der Heine, um Zwölf fährst los und bist um eins in Peine. So‘n Auto ist ganz wundervoll. Wenn ich nur wüsst, was ich um eins in Peine soll.“

Das erschien mir damals schon klug. Einfach nur spazieren gehen, undenkbar. Das blieb dem Sonntagnachmittag vorbehalten. In geordneter Familienformation. Dass gleich um die Ecke und mit dem Rad leicht zu erreichen, die Heilige Linde war, wusste ich nicht. Wie nahe die Masurischen Seen, auch nicht. Das alles erfuhr und befuhr ich erst als „Heimweh-Tourist“, wie eine Wortneuschöpfung aussagte. Auf nichts wurden wir vorbereitet, weder auf den Mangel noch auf den Überfluss.

Wie glücklich wäre man gewesen, hätte der Verkäufer einen beim Einkauf gefragt: „Darf es etwas mehr sein?“ Kein Mensch kann sich heute mehr vorstellen, wie groß die Not damals war, und dabei ist das erst siebzig Jahre her. Heute kann man sich in den langen Gängen des Supermarktes mehr als ein bisschen mehr in den Korb laden. Bis 24 Uhr gibt es von allem, einschließlich frischer Brötchen und Brot. Verwirrend, und manchmal könnte es einem ergehen wie dem Esel, der sich zwischen zwei Heuhaufen nicht entscheiden konnte und verhungerte.

Mensch, geht uns das gut, sage ich zu meinen Leuten, die sich auf‘s Klagen verstehen. Wenn alles so bleibt, wie es ist. Ich will gar keine Traumreise machen, kenne ja kaum die neue Heimat, in die ich mich integrieren musste.

Die Rastenburgerin erzählt, ihre Kinder sind mit den Enkeln verreist gewesen. Griechenland. Erst Kultur, dann Badezeit. Auf die Frage, wie es denn war, bekommt sie von den Enkeln zur Antwort: „Nicht so doll.“ Keine Animation. Na, was sagste nu, meint sie. Wir erinnern uns der Fantasiereisen, die spielend stattfanden. Wir fahren nach Jerusalem und ich bin die Tante aus Paris. Schon das Aussprechen der Namen war bezaubernd: Paris - Jerusalem. Toll! Das alles ist noch so parat und wir wundern uns, was wir schon alles erlebt und überlebt haben. Und eigentlich ist ja die Buntheit des Lebens bis hin zu den farbigen Zahnbürsten, ganz schön. Blau oder grün, oder doch lieber gelb, was passt am besten zu den Kacheln im Bad? Vielleicht doch lieber lila, der letzte Versuch, oder? Das sind Sorgen, die der Mensch von heute hat. Aber alles, alles ist besser als Krieg und Röcke, die vorn zu kurz sind.           Christel Bethke


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