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21.07.12 / Ein Jahrhundert in Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-12 vom 21. Juli 2012

Ein Jahrhundert in Berlin
von Vera Lengsfeld

Kurz vor der Sommerpause stellte die Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur ein wirkliches Jahrhundertwerk vor. „Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren“ ist der Titel des sensationellen Buches des Schweizer Historikers Andreas Petersen über den 100-jährigen Erwin Jöris. Der geborene Berliner stammt aus einem kommunistischen Elternhaus. Mit fünf Jahren sieht er den Begräbnisumzug für Liebknecht und Luxemburg unter dem Fenster der elterlichen Wohnung vorbeiziehen.

Er startete seine Karriere als schlagkräftiger Straßenkämpfer des kommunistischen Jugendverbandes KJVD im Unterbezirk Lichtenberg-Friedrichshain. Immer wenn die Parteiführung im Karl-Liebknecht-Haus einen Märtyrer brauchte, hieß es „Jugend voran“, schätzt Jöris sein damaliges Engagement heute kritisch ein. Tatsächlich wurde sein bester Freund im Alter von 18 Jahren bei einem Angriff auf die sozialdemokratische Polizei erschossen.

Im Buch steht das Vorkriegsberlin von seiner wenig bekannten Seite wieder auf. In der Arbeiterhochburg Lichtenberg wurde durch Straßenterror die Weimarer Demokratie sturmreif geschossen. Die Kommunisten bekämpften auch noch nach der Machtübernahme Hitlers die Sozialdemokraten als ihren Hauptfeind. Jöris landete im ersten KZ Sonnenburg, gemeinsam mit fast allen führenden kommunistischen Funktionären Berlins.

Als er nach knapp sechs Monaten nach Lichtenberg zurückkehrt, ist die Mehrzahl seiner ehemaligen Kampfgefährten zu den Nazis übergetreten. Jöris lässt sich von der Partei in die Emigration nach Moskau schicken, wird dort aber nicht für würdig befunden, die kommunistische Jugendschule zu besuchen, sondern zur Bewährung in der Produktion nach Swerdlowsk abgeschoben. Dort erregt er das Missfallen der örtlichen Funktionäre und KGB-Spione und landet im berüchtigten Gefängnis Lubjanka. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wird er an Deutschland ausgeliefert, wo er gleich wieder im Gefängnis landet, zum Glück nicht bei der Gestapo.

Sein Vernehmer geht nach gründlicher Befragung davon aus, dass Jöris vom Kommunismus die Nase voll hat und entlässt ihn. Den Krieg muss Jöris als Sanitätssoldat mitmachen, gerät am Ende in sowjetische Kriegsgefangenschaft und nach der Entlassung alsbald ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes. Aus dem NKWD-Gefängnis in der Magdalenenstraße, das später der Stasihauptzentrale angegliedert ist, wird Jöris für 25 Jahre nach Workuta geschickt. Nach sechs Jahren ist er wieder daheim und stellt fest, dass die meisten zwischenzeitlichen Nazis nun in der SED sind. Ein Schicksal, das viel Verborgenes aus dem vergangenen Jahrhundert erhellt.


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