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18.08.12 / »Zukunft ist Herkunft« – Stärkt endlich den Geschichtsunterricht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-12 vom 18. August 2012

Gastkommentar
»Zukunft ist Herkunft« – Stärkt endlich den Geschichtsunterricht
von Josef Kraus

Zukunft ist Herkunft“, hat Martin Heidegger einmal gesagt. Auf Erziehung und Bildung gewendet heißt das: Eine Erziehung und Bildung ohne Tradition und ohne historisch-narrative beziehungsweise biografisch-narrative Elemente, eine Bildung und Erziehung der bloßen Daseinsgefräßigkeit, gar eine Schulbildung ohne grundsoliden Geschichtsunterricht wären eine Verweigerung von Zukunft und eine Verweigerung von Orientierung. Orientierung erwächst schließlich in erster Linie aus der Teilhabe am kulturellen Gedächtnis. Das ist der Grund, warum totalitäre Systeme über bestimmte Epochen der Geschichte gerne den Mantel des Vergessens auszubreiten und zur Proklamation einer ewigen Gegenwart neigen. Denn ein Er-Innern ist die Chance des Widerstands und der befreienden Kraft gegen Indoktrination.

Der unbehauste und historisch entwurzelte Mensch aber wird die Beliebigkeit und Oberflächlichkeit des „global village“ nur dann aushalten, wenn er Geborgenheit in Kultur, Geschichte, Tradition und Sprache findet. Und er wird nur dann seine Froschperspektive überwinden, wenn er beherzigt, was der Frühscholastiker Bernhard von Chartres (um 1120) meinte: „Im Bewusstsein unseres begrenzten Erkenntnisvermögens sind wir alle Zwerge, aber auf den Schultern von Riesen können die Zwerge weit schauen.“ Mit anderen Worten: Nur dann sind wir auch ideell und ideengeschichtlich mündig.

In einer Zeit aber, in der die Politik meint, von Vision zu Vision eilen zu müssen, ist Geschichte unbequem, weil sie – ohne Klitterung betrieben – Skepsis gegen Utopien zu vermitteln vermag. Gerade deswegen hat der Archivar Winston Smith in George Orwells „1984“er Wahrheitsministerium („Miniwahr“) die Aufgabe, Geschichte ständig umzuschreiben, damit sie sich den jeweils aktuellen politischen Wünschen fügt. Geschichtspolitik nennt man so etwas.

Geschichtspolitik wirkt sich aber auch in freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten etwa auf die Schulpolitik aus. Welche Bildungsschwerpunkte hier gesetzt werden beziehungsweise welche Themen ganz unter den Tisch fallen, ob es überhaupt ein eigenes Fach Geschichte oder dieses nur integriert in Gemeinschaftskunde gibt, das ist alles eine Frage der Geschichtspolitik.

Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis solcher Geschichtspolitik ist auch im Deutschland des Jahres 2012 ein historischer Analphabetismus unter Jung und Alt. An diesem Analphabetismus wird sich zukünftig nichts ändern, denn ganze historische Epochen wurden curricular entsorgt. Stattdessen ist exemplarisches Wissen angesagt. Aber heißt das: Ein Weltkrieg statt zwei, eine Revolution exemplarisch für fünf? Zwei Revolutionen würden reichen, meinen sogar gewisse Lehrervertreter, um im gleichen Atemzug zu monieren, dass es doch keine fünf sein sollten. Welche der Revolutionen aber lassen wir dann weg? 1789, 1848, 1917, 1918/1919, 1989?

Völlig unterbelichtet ist zum Beispiel die Repräsentanz der Geschichte Mittelost- und Osteuropas in den Lehrplänen der deutschen Länder: die Ostsiedlung im 12./14./17. Jahrhundert; die Geschichte mittel- und osteuropäischer Staaten, zum Beispiel Polens; die Vertreibung nach 1945; die Situation deutscher Volksgruppen und die Integration von Aussiedlern in Deutschland. All diese Themen sind in den insgesamt rund 300 Geschichtslehrplänen aller 16 Länder, aller Schulformen und aller Jahrgangsstufen in insgesamt defizitärer Weise repräsentiert. Zahlreiche ostgeschichtlich relevante Begriffe kommen gar nicht vor: Baltikum, Donauschwaben, Königsberg, Pommern, Böhmen. Jörg-Dieter Gauger, lange Jahre führender Bildungsexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat dazu 2001 und 2008 umfassende Studien vorgestellt. Kein Wunder, dass unsere jungen Leute gerade auch „ostkundliche Analphabeten“ sind, wie Gauger 2011 bei der Tagung „Polen im deutschen Schulunterricht – Zwischen Wunsch und Realität“ des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung feststellte!

Curriculare tabula rasa ist etwa auch die Geschichte Brandenburg-Preußens. Napoleons geringschätzende Bemerkung von 1806, Preußen sei „nur eine Episode“, findet in deutschen Lehrplänen ihre Bestätigung. Der Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht, die Rolle des größten Territorialstaates im Reich („von Aachen bis Königsberg“), Preußens aufgeklärter Absolutismus, die Reformen nach 1806/07, der Dualismus zwischen Preußen und Österreich, die Stellung Preußens im Kaiserreich – all diese Themen bleiben auf der Strecke. Wenn überhaupt, dann bleibt oft nur eine recht eingeschränkte Interpretation eines einzigen Ereignisses übrig: die Zerschlagung des (Frei-)Staates Preußen durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 und die förmliche Auflösung Preußens zu Gunsten der Länder Brandenburg, Meck-lenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt am 24. Juli 1947. Indirekt kommt damit auch die Geschichtsperspektive der sowjetischen und  DDR-Geschichtsschreibung zum Tragen, derzufolge „Preußen als Hort des Militarismus und Träger der Reaktion“ anzusehen sei.

Noch erschreckender: Gerade eben 20 Jahre nach dem Mauerfall wissen die jungen Leute fast nichts über die DDR. Laut einer Studie des „Forschungsverbundes SED-Staat“ der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2007 (Titel „Soziales Paradies oder Stasi-Staat?“; Leiter: Professor Klaus Schroeder) ist das Wissen deutscher Schüler um die Zustände in der DDR höchst defizitär. Zum Beispiel: Mehr als die Hälfte der Schüler kennt das Jahr des Mauerbaus nicht. Nur jeder Dritte weiß, dass die DDR die Mauer gebaut hat. Ebenfalls jeder dritte Schüler hält Konrad Adenauer und Willy Brandt für DDR-Politiker, und Erich Honecker ist angeblich demokratisch legitimiert gewesen. So weit ein paar der Ergebnisse der Studie, an der insgesamt 5000 Schüler im Alter von 16 und 17 Jahren aus Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern beteiligt waren.

Anfang Juli hat die FU-Forschergruppe eine neue Studie aufgelegt. Sie trägt den Titel „Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“. Auch hier geht es um das zeitgeschichtliche Wissen der jungen Leute. Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses „Wissen“ erwies sich erneut als katastrophal. Befragt hatte man rund 4600 Jugendliche zu vier Epochen der jüngsten deutschen Geschichte: zum Nationalsozialismus, zur DDR, zur Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung. Nur ein Drittel der Fragen konnten die Jugendlichen richtig beantworten. Zum Beispiel ist den allermeisten Schülern nicht präsent, dass die Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989 ein freiheitlicher, demokratischer Rechtsstaat war, ohne dessen Ausstrahlung es „1989/1990“ nicht gegeben hätte. Zudem fiel erneut auf, dass es ein erhebliches innerdeutsches Gefälle gibt. Bayerische Schüler schnitten am besten, Schüler aus NRW am schlechtesten ab. Besonders erschreckend: Das höchst defizitäre Wissen schlägt sich auch im Urteilen nieder. Fast die Hälfte der Schüler kann nicht zwischen den Merkmalen von demokratischen und diktatorischen Systemen unterscheiden. Die Autoren der Studie stellen deshalb nicht zu Unrecht die Frage: „Später Sieg der Diktaturen?“

Wenn das nicht endlich Anlass ist, den Geschichtsunterricht zu stärken – und zwar mit erheblich mehr Unterrichtsstunden und mit konkreten Inhalten!

Der Autor ist Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbands und Leiter eines Gymnasiums bei Landshut.


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