18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
25.08.12 / Auf deutschen Spuren im Riesengebirge / Vergessene Orte: Reise zum Haus Gerhart Hauptmanns im Hirschberger Tal und dem Schloss Lomnitz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-12 vom 25. August 2012

Auf deutschen Spuren im Riesengebirge
Vergessene Orte: Reise zum Haus Gerhart Hauptmanns im Hirschberger Tal und dem Schloss Lomnitz

„Namen, die keiner mehr nennt“: Der Titel des Erinnerungsbuches über Ostpreußen von Marion Gräfin Dönhoff wurde zum geflügelten Wort und passte in die Ära der Brandtschen Verzichtspolitik und des Arrangements mit dem Ostblock. Doch liegt es nicht an uns, die „Namen zu nennen“, noch und wieder? Landstriche jenseits von Oder und Neiße im Bewusstsein gegenwärtig zu halten und wieder kennenzulernen, die trotz brachialer Polonisierung so deutsch wirken, dass einem ganz eigentümlich zumute wird? Wahre Schätze schlummern in Schlesien, das näher liegt, als man vermutet. Wie Perlen an einer Kette aufgereiht sind sie im Hirschberger Tal unterhalb der Schneekoppe – einer Gegend, wie geschaffen für Kulturreisende.

Liest heute noch jemand Gerhart Hauptmann? „Die Weber“? Für viele, auch für mich, war das Buch in der Schulzeit ein Thema, vor drei oder vier Jahrzehnten. Lange her. „Die Weber“ jedenfalls sind kein Grund mehr, um heute ins Riesengebirge zu fahren, zum „Haus Wiesenstein“ des vergessenen Nobelpreisträgers von 1912. Nach Agnetendorf, nach „Jagniatków“, wie es heute behördlich polnisch heißt.

Aber einige Besucher finden den Weg doch, reisen gezielt auf den Spuren des Schriftstellers, suchen vielleicht auch nach familiären Hintergründen, folgen den Erzählungen ihrer Großeltern. Sie treffen in Schlesien auf doppeltes Vergessen. Zum einen ist der Schriftsteller, einst Stimme der Deutschen, einst einer der berühmtesten Männer des Landes, aus den Diskursen verschwunden. Anders als Thomas Mann oder gar Goethe ist er keine Autorität mehr, die aus der Vergangenheit mit ihren Werken wirkt.

Zum anderen ist der Ort aus der Landkarte des Geistes gestrichen. Agnetendorf war schon immer ein stiller Künstlerort, aber er hatte Bedeutung, Aura. Wie das große Hirschberg, wie Krummhügel und Schmiedeberg – aber wer von den Deutschen, die keine schlesischen Vorfahren haben, kennt diese Orte noch?

Wenn man in Görlitz startet, und in Görlitz sollte man starten, taucht man ab in eine arkadische Landschaft – dieses schlesische Miteinander von sanften Hügeln und beachtlichen Bergen wie der Schneekoppe. Bis Hirschberg [Jelenia Góra] bereitet die Strecke keine Probleme, doch danach ist man auf die spärliche Ausschilderung angewiesen, das Navigationssystem kennt nur die großen Orte. Man muss nach „Dom Gerharta Hauptmanna“ fragen, um die richtigen Abzweigungen zu finden.

Eine schmale Straße führt in die Berge, an einer Holzkirche vorbei zum richtigen Ort. Die Luft riecht hier frischer, gebirgiger. In Agnetendorf stehen polnische Pfadfinder an der engen Straße, alle in militärisch anmutender Uniform, Jungen und Mädchen. Sie warten auf einen Bus, der sie weiter in die Berge bringt. Haben sie das Museum schon besucht? Oder ist Gerhart Hauptmann kein Thema für junge Polen? Ja, wieso sollte er Thema sein, wenn sich nicht einmal die jungen Deutschen für ihn interessieren?

Der Parkplatz des Museums ist meistens leer, selbst an Ferientagen im August. Eine Andenkenbude hat heute geöffnet, zwei sind geschlossen. Vielleicht kommen irgendwann die Busse mit den Deutschen, die Vertriebenen, die noch immer begierig die Bilder ihrer Heimat aufsaugen. Oder ist es schon die nächste Generation, auf den Spuren der Eltern und Großeltern?

Zwischen Tannen, es riecht nach Harz, führt ein Weg auf die Felsnase, auf der die Villa liegt, eigentlich mehr ein Palast, eine stolze Selbstbestätigung des Nobelpreisträgers.

Hier hat er also gelebt. Seit 1901, mit großen Unterbrechungen. Und hier ist er 1946 gestorben; damals wusste er, dass seine Idylle, sein Paradies verloren ist. Unter anderen Bedingungen hätte er länger gelebt, hätte er seinen Lebensabend genossen. Aber das war ihm nicht gegönnt. Eine schwere Bronchitis raffte ihn dahin. Schon eine Stunde nach seinem Tod wollten die Polen, dass seine Leiche den Ort verlässt. Es kam anders, der Zinksarg konnte zunächst bleiben.

Mein Großvater hatte nur wenige Kilometer entfernt gelebt, damals, in den Jahren der Ka­tastrophe, zuerst der nationalso­zialistischen, dann der sowjetischen. Er war Baurat in Lüben, später in Liegnitz. Auch er musste natürlich flüchten, mit Frau und fünf Kindern. Alle haben die Flucht überlebt, aber niemand hat mehr darüber gesprochen. Was haben sie erlebt? Mein Großvater konnte im Westen eigenhändig ein Haus für seine Familie bauen. Als es fertig war, als die Familie einzog, in neuer Sicherheit, fiel er tot um.

Hauptmanns Haus wirkt wie eine Höhle, in der die Zeit stehen geblieben ist. Die Wandbemalung von Avenarius aus den frühen 1920er Jahren, die die Halle düster und geheimnisvoll macht, hat die Jahrzehnte überstanden. Der Schreibtisch steht unberührt und ein Schrank mit einer neunbrüstigen Frau verweist auf die Obsessionen des Dichters. Er verstand es, zu leben – sinnlich, großbürgerlich, selbstbewusst. Nichts wirkt hier klein, bescheiden, zweifelnd.

Es klingelt. Zwei Polen wollen sich das Haus ansehen. Ehrfürchtig gehen sie durch die Räume des Deutschen, den die Deutschen vergessen haben. Alles wirkt so, als ob Hauptmann im Nebenraum sitzt und an einem Roman arbeitet. Man spricht unwillkürlich leiser.

Die Rückfahrt führt mich über Hirschberg nach Lomnitz [Łomnica]. Die Schlösser von Lomnitz, das Hauptschloss und das benachbarte sogenannte Witwenschloss, gehören inzwischen zu jeder Schlesienreise dazu, Pflichtprogramm in allen Reiseführern. Als 1835 die Familie derer von Küster das Barockschloss übernahm, ließ sie es vom Schinkel-Schüler Albert Tollberg im Biedermeierstil umgestalten. Bis 1945 hielten die von Küsters ihren Besitz – dann wurden sie vertrieben.

Nach dem Krieg übernahm der polnische Staat die Bauten, richtete dort zuerst eine Schule ein, ließ sie aber bald verfallen. Nach der Öffnung des Ostens bot sich Ulrich von Küster und seiner Frau die Chance, den alten, inzwischen ruinösen Familienbesitz – Dächer waren eingestürzt, Bäume wuchsen aus den Fenstern – zurückzuerwerben. Sie griffen mutig zu und steuerten von Görlitz aus die Sanierung. Das erste Schloss wurde Hotel – und bot eine wirtschaftliche Basis. Das zweite, etwas später erworbene, wurde nach und nach zu einem Kultur- und Veranstaltungszentrum sowie einem Museum umgestaltet – es zeigt heute die Geschichte des Hirschberger Tals, des schlesischen Elysiums, mit seinen zahlreichen Schlössern.

Inzwischen konnte auch die Sanierung des Gutshofes, des Dominiums, abgeschlossen werden – der alte Besitz ist in seinem Kernbereich wieder arrondiert, auch wenn die Brauerei, das Sägewerk und die Ziegelei, die bis 1945 dazugehörten, nicht mehr existieren. Im Gutshof sind ein Bistro, Läden mit schlesischem Porzellan und Leinen sowie eine

Bäckerei eingerichtet. Die Besucher schätzen das Nebeneinander von alten Bildern aus dem Hirschberger Tal, von einem fast barock eingerichteten Schlosshotel und den kleinen Läden mit regionalen Produkten, sie schätzen die Atmosphäre in dem von altem schlesischen Adel familiengeführten Betrieb.

In Lomnitz wird eine Geschichte erfolgreich und überzeugend zelebriert, die Krieg, Vertreibung und Sozialismus leichtfüßig überspringt, von der guten alten Zeit mit einem Satz in die schöne neue. Hauptmann, dem großen Genießer, hätte das gefallen.

Nils Aschenbeck

Buchtipp: „Das schlesische Elysium. Burgen, Schlösser, Herrenhäuser und Parks im Hirschberger Tal“, Deutsches Kulturforum Östliches Europa, 3., erweiterte und überarbeitete Auflage, Potsdam 2008, 226 Seiten, zahlreiche farbige und schwarzweiße Ansichten, Grundrisse, geb., 19,80 Euro.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren