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25.08.12 / Mehr als nur Altherrenphantasie / Über die freie Liebe der 70er Jahre und ihre Schattenseiten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-12 vom 25. August 2012

Mehr als nur Altherrenphantasie
Über die freie Liebe der 70er Jahre und ihre Schattenseiten

Die Engländer haben unzweifelhaft ihre Schwächen. Ihr Bier und ihre Küche sind höchst bedenklich, und auch um die Fußballkünste der Briten ist es nicht gut bestellt. Dafür hat die Insel viele großartige Schriftsteller hervorgebracht, die vor allem auch unterhaltsame und lesbare Romane vorgelegt haben. Wenn also Martin Amis’ „Die schwangere Witwe“ in England zum „Buch des Jahres“ gewählt wurde, dann sollte man sich den dicken Schinken schon genauer anschauen.

Manche missmutige Rezensenten haben moniert, das Werk des 1949 geborenen Autors sei eine Altherrenphantasie. Doch worum geht es in dem Buch mit dem seltsamen Titel? Die Geschichte spielt in einem heißen italienischen Sommer im Jahr 1970. Der Protagonist Keith, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, ist 22 Jahre alt, liest sich durch die englischen Literaturklassiker und lungert am Pool herum, wobei er permanent weiblichen Reizen ausgeliefert ist, auch wenn Lily eigentlich seine feste Freundin ist, der seine Blicke gelten sollten. Für erotische Ablenkung sorgen Gloria Beautyman, die er später genauso wie Lily heiraten wird, und die oft barbusige Sheherazade mit der sagenhaften Büste, die er trotz diverser Anstrengungen nicht in sein Bett befördern kann.

Zur damaligen Zeit übten die Menschen noch die Kunst der freien Liebe. Amis’ Rückblick auf diese wilde Zeit der sexuellen Libertinage benennt durchaus die Schattenseiten der damals begonnenen Entwicklung. So sagt eine Romanfigur, dass um das Jahr 2110 herum die Muslime in Europa die Mehrheit stellen würden: „Die feminisierte Frau hat nur ein einziges Kind“, sagte sie. „Daher könnte das Endergebnis eurer sexuellen Revolution die Scharia und der Schleier sein …“

Die Romanfiguren sind – was die Kritik ebenfalls bemängelt hat – in der Tat etwas schablonenhaft geraten. Aber lesen wir Romane, weil wir Menschen aus unserem täglichen – oftmals öden – Leben begegnen wollen? Nein, wir möchten in eine andere Welt eintauchen. Und Amis hat ein paar Figuren erfunden, die für bestimmte Typen stehen sollen. Die Hauptfigur Keith Hearing, der seine erste Buchbesprechung für das „Times Literary Supplement“ schreiben soll, ähnelt in manchen Zügen dem Autor. Sheherazade ist sozusagen der feuchte Traum der am Pool versammelten Urlauber, während Lily eher den patent-praktischen Part übernimmt, und daher auch für Keith erheblich an Reiz einbüßt.

„Die schwangere Witwe“ ist kein wüster Abgesang auf die Zeit der sexuellen Revolution Anfang der 1970er Jahre. Es handelt sich um keine kulturkonservative Klage, wie schlimm alles geworden sei. Aber der Roman verschweigt auch nicht die Schattenseiten und den Umstand, dass viele Menschen aus Konformismus nur mit der Zeit gegangen sind, obwohl sie vielleicht eher dem Idealbild der romantischen Liebe nachgehangen haben. Keith jedenfalls, so lernen wir am Ende des Romans, haben die sogenannten Errungenschaften der freien Liebe nicht unbedingt glücklicher gemacht. Ansgar Lange

Martin Amis: „Die schwangere Witwe“, Carl Hanser Verlag, München 2012, geb., 414 Seiten, 24,90 Euro


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