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01.09.12 / Die Nacht, in der alles schief lief / »Geiseln frei«, »Geiseln tot« – Rückblick auf das Münchner Olympia-Attentat vor 40 Jahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-12 vom 01. September 2012

Die Nacht, in der alles schief lief
»Geiseln frei«, »Geiseln tot« – Rückblick auf das Münchner Olympia-Attentat vor 40 Jahren

Alle hatten sich auf die „heiteren Spiele“ von München gefreut – und wurden von palästinensischen Terroristen jäh aus dem Freudentaumel gerissen. Unser Autor hat diesen 5. September 1972 als Nachrichtenredakteur beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ erlebt und erinnert sich – 40 Jahre danach – an die aufregendste Nacht seines Journalistenlebens.

Nachtdienst in der Nachrichtenredaktion. Nicht unbedingt das, wovon junge Journalisten träumen. In der Mettage die Montage der Politikseiten überwachen (Fotosatz und rechnergesteuerte Textsysteme gab es damals noch nicht), dann Korrektur lesen, hier und da eine Meldung nachschieben. Künstlerischer Höhepunkt kurz vor Dienstschluss um 2 Uhr morgens: die Aktualisierung des Dow-Jones-Index, der damals noch per Telex über den Teich ti­ckerte.

In dieser Woche im Spätsommer 1972 aber ist der Nachtdienst alles andere als unangenehm. Im Gegenteil: Da hat man tagsüber viel Zeit für die Fernsehübertragungen von den Olympischen Spielen in München. Und abends läuft auch noch einiges, wozu hat man schließlich ein TV-Gerät in der Redaktion. Zeit hat man ja genug, außer Sport passiert eh nichts in der Welt.

Und dann, am Dienstag, 5. September, passiert doch etwas. Frühmorgens um kurz nach halb fünf klettern acht schwerbewaffnete Palästinenser über den Zaun des Olympischen Dorfes. Niemand hindert sie daran, nach wenigen Minuten dringen sie in die Unterkunft der israelischen Mannschaft ein, nehmen fünf Sportler, vier Trainer und zwei Kampfrichter als Geiseln. Zwei von ihnen kommen bei Fluchtversuchen ums Leben.

Polizei und Rettungskräfte werden erst um 5.21 Uhr alarmiert. Das Gebäude wird umstellt, um 6.40 Uhr beginnen Verhandlungen mit den Terroristen. Deren Forderung: Freilassung von über 200 palästinensischen Gefangenen sowie der beiden deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof und eines japanischen Attentäters. Krisenstäbe treten in Bonn und Tel Aviv zusammen, Ultimaten werden gestellt und verschoben. Scharfschützen beziehen Stellung, kommen aber nicht zum Einsatz. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher bietet sich als Ersatzgeisel an – wer ihn kennt, hat keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses erfolglosen Versuchs, die Israelis freizubekommen.

Am späten Nachmittag, beim Dienstantritt zur Nachtschicht, wundere ich mich zunächst einmal über die völlig verworrene Nachrichtenlage. Jede Agentur meldet etwas anderes, jeder Kollege vor Ort in München glaubt etwas anderes zu wissen. Wir in der Redaktion in Köln wissen nicht, wem wir glauben sollen: dem Regierungssprecher Conrad Ahlers, vormals „Spiegel“-Redakteur? Oder dem Olympia-Pressechef Hans „Johnny“ Klein, später ebenfalls Regierungssprecher? Oder doch den Pressesprechern des Münchner Polizeipräsidiums, der Bayerischen Staatsregierung oder des Bundesinnenministeriums? Jeder hält sich für zuständig, und jeder hat seine eigene „Wahrheit“.

Gegen 20 Uhr muss die erste Ausgabe angedruckt werden. Was schreibt man da über eine Aktion, die noch läuft, aber morgen früh, wenn der Leser die Zeitung vor sich hat, wahrscheinlich beendet ist, so oder so? Während ich die ersten Andruckexemplare von der Rotation hole, kommt aus München die Nachricht, dass Terroristen und Geiseln nach Kairo ausgeflogen werden sollen. Um 22.18 Uhr heben zwei Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes (BGS) ab. Ihr Ziel: der Bundeswehr-Flughafen Fürstenfeldbruck, wo eine Boeing 727 wartet.

Gerade habe ich wieder einmal Text und Schlagzeile auf Seite 1 aktualisiert, da sickert durch: Es wird eine Befreiungsaktion vorbereitet, das Flugzeug steht mit fast leeren Tanks und ohne Besatzung auf dem Rollfeld. Regierungsamtlich verlautet, alles laufe „nach Plan“.

In Wirklichkeit läuft alles schief. Die Hubschrauber stehen falsch, die Scharfschützen haben untereinander keinen Kontakt und nehmen sich selber ins Visier, die Terroristen durchschauen das plumpe Täuschungsmanöver. Um 22.35 Uhr beginnt ein fast zweistündiges Feuergefecht.

Gegen 23.35 aber wird im Fernsehen gemeldet, die Geiseln seien entkommen, die Terroristen tot. Eine halbe Stunde später legt „Conny“ Ahlers nach: Die Aktion sei „glücklich und gut“ verlaufen, alle Geiseln gerettet. Während ich die neue Schlagzeile „Alle Geiseln befreit“ absetzen lasse, ruft ein Kollege aus unserer Bonner Parlamentsredaktion an, der zufällig gerade in München ist und seine guten persönlichen Kontakte zu Genscher und dessen engsten Mitarbeitern nutzt: „Stopp die Schlagzeile, da stimmt was nicht. Angeblich wird da draußen immer noch geschossen.“ Und eine gute Stunde später, während die Agenturen noch Ahlers’ Siegesbotschaft verbreiten: „Die sind alle tot. Ich habe das direkt von Johnny Klein.“ Also noch einmal: Rotation halt, neue Schlagzeile „Alle Geiseln tot“. Wir erreichen gerade noch 20000 Exemplare im Kölner Innenstadtbereich, sind aber immerhin die einzige Tageszeitung mit der richtigen Nachricht wenigstens in einer Restauflage. Stolz bin ich auf diese Schlagzeile freilich nicht.

Zehn Jahre später, inzwischen beim „Deutschland-Magazin“. Mein engster Mitarbeiter dort: „Johnny“ Klein. Natürlich sprechen wir immer wieder über die Ereignisse dieses 5. September 1972. „Johnny“ bestätigt, was ich schon lange vermutet habe: Israel war bereit, die Sportler mit eigenen Kräften zu befreien. Aber die Deutschen glaubten: Das können wir auch – ein erster fataler Irrtum. Ebenso fatal die Rivalität zwischen Bund und Freistaat. Jeder glaubte, er könne das besser.

Regierungssprecher Ahlers hielt Olympiasprecher Klein für unzuständig und politisch inkompetent: „Der soll sich um seinen Sport kümmern“. Dass Klein später Regierungssprecher, Bundesminister und Bundestagsvizepräsident wurde, beantwortet die Frage, wer da „politisch inkompetent“ war, auf einfache Weise.

Die Summe der politischen und polizeitaktischen Fehler an diesem schrecklichen 5. September ist beschämend. Eines allerdings muss man den Beteiligten zugute­halten: Sie haben daraus gelernt und schnell die notwendigen Konsequenzen gezogen. So wurde als Reaktion auf den schrecklich gescheiterten Befreiungsversuch mit der GSG 9 eine für solche Aktionen bestens vorbereitete Spezialtruppe aufgebaut. Auch verzichtete man darauf, in solch dramatischen Situationen den möglichen Einsatz bewaffneter ausländischer Kräfte zur Souveränitätsfrage hochzustilisieren. 1972, in München, hatten deutsche Polizei und Bundesgrenzschutz im Gegensatz zu ihren israelischen Kollegen keine Erfahrung im Umgang mit palästinensischen Terroristen. Fünf Jahre später, 1977, hatten wir eine gut ausgebildete GSG 9 – und Mogadischu Gott sei Dank damit keine Souveränitätsprobleme. Hans-Jürgen Mahlitz


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