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22.09.12 / Hort der deutschsprachigen Neuerscheinungen / Vor 100 Jahren wurde die Deutsche Nationalbibliothek gegründet – Gründungsgeschichte spiegelt deutschen Föderalismus wider

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-12 vom 22. September 2012

Hort der deutschsprachigen Neuerscheinungen
Vor 100 Jahren wurde die Deutsche Nationalbibliothek gegründet – Gründungsgeschichte spiegelt deutschen Föderalismus wider

Ob „Reichsbibliothek“, „Deutsche Zentralbibliothek“, „Deutsche Bücherei“ oder „Nationalbibliothek“, nach der Reichsgründung 1871 wurde über die Schaffung einer zentralen Sammel- und Aufbewahrungsstätte unter den unterschiedlichsten Namen diskutiert. Am 3. Oktober 1912 kam es schließlich zur Vertragsunterzeichnung, welche die heute noch bestehende Deutsche Bücherei in Leipzig ins Leben rief.

Ideen und Pläne für eine Nationalbibliothek gab es schon vor 1871. Bei seiner Arbeit an einer Sprachenkarte von Deutschland vermisste der Bibliothekar Karl Bernhardi, wie andere Forscher und Wissenschaftler auch, eine Bibliothek für alle deutschen Veröffentlichungen. In einem Schreiben vom 18. Oktober 1843 wandte er sich an die Akademie der Wissenschaften in Berlin, diese möge sich beim preußischen König für eine solche Bibliothek einsetzen. Das Akademiemitglied Jacob Grimm sprach sich als Gutachter aber dagegen aus: „Das Gute läuft ohnehin keine Gefahr, vergessen oder verloren zu werden, wozu die übervollständige Anhäufung des Mittelmäßigen und Schlechten?“

Der Gründung einer zentralen Bibliothek traf wiederholt auf die föderale Struktur des Deutschen Reiches. So meinte der Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke 1884, dass die Königliche Bibliothek zu Berlin aufgrund der Verfassung nicht als Reichsbibliothek infrage käme. Die Bibliotheken der Länder, darunter die Bayerische Staatsbibliothek und die Königliche Bibliothek, heute Staatsbibliothek zu Berlin, hätten mit ihrer Dezentralität sogar Vorteile gegenüber den Einrichtungen in Frankreich und England. Zudem hatte 1874 eine Reichstagsmehrheit bereits die alleinige Zuständigkeit der Bundesstaaten betont.

Zwar enthielt das Statut der Königlichen Bibliothek von 1885 die Aufgabe, „in möglichster Vollständigkeit die deutsche und in angemessener Auswahl auch die ausländische Literatur zu sammeln, dieselbe geordnet aufzubewahren und der allgemeinen Benutzung zugänglich zu machen“. Die Lücke zwischen den gedruckten und den gesammelten Werken wuchs aber beständig an. So verdreifachte sich zwischen 1871 und 1911 im Deutschen Reich die Zahl der Druck­werke. Aber die Königliche Bibliothek, die alle in Preußen verlegten Druckwerke als Pflichtstücke erhielt, besaß 1912 lediglich zwei Drittel der deutschsprachigen Buchproduktion. In seinen Erinnerungen schrieb Wilhelm Erman, bis 1889 Beamter an der Königlichen Bibliothek und Direktor der Berliner Universitätsbibliothek, dass dem Generaldirektor August Wilmanns nicht viel am Erwerb von Belletristik und Übersetzungen ausländischer Literatur lag, sondern er vor allem Universitätsliteratur erwerben ließ. Eine Bestandsaufnahme 1906 ergab, dass besonders in den Bereichen Medizin, Technik und Naturwissenschaften sowie der Belletristik Lücken bestanden.

Letztlich waren es nicht vornehmlich Politiker, sondern der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, das Königreich Sachsen und die Stadt Leipzig, die die Gründung einer Deutschen Bücherei voranbrachten. Der Buchsektor war nämlich für Sachsen im Allgemeinen und Leipzig im Besonderen zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Erich Ehlermann vom Börsenverein schlug daher ab 1910 die Gründung einer Reichsbibliothek in Leipzig vor: „Die Zeit, in der wir leben, ist gekennzeichnet durch eine Anzahl ungeheurer Umwälzungen … Für den Forscher kommender Jahrhunderte wird deshalb gerade unsere Zeit von dem größten Interesse sein, in der Anfänge jener Kultur liegen, die ihm Gegenwart sein wird. Wer sich diese Sachlage vergegenwärtigt, dem muss es geradezu unverantwortlich erscheinen, wenn unsere Zeit nicht sorgsam sammelt, was dereinst Zeugnis von diesen Umwälzungen geben kann. Und was vermöchte das mehr, als die Druck­schrift, die – vereinzelt vielleicht belanglos – in der Gesamtheit der Erscheinungen ein deutliches Spiegelbild entwirft von Vorgängen, die uns selbst vielleicht nicht einmal zum Bewusstsein kommen.“

Verhandlungen zwischen Vertretern des Börsenvereins, des Reichsamts des Innern, des preußischen Kultusministeriums und der Direktion der Königlichen Bibliothek zu Berlin sowie dem Reichskanzler führten letztlich zu einem Kompromiss. Am 3. Okto­ber 1912 kam es zur Vertragsunterzeichnung zwischen dem Königreich Sachsen, der Stadtgemeinde Leipzig und dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler. Für die Errichtung eines Gebäudes und den Unterhalt für die nächsten zehn Jahre sollten das Land und die Stadt aufkommen, der Börsenverein war hingegen für die Beschaffung zuständig. Gesammelt und aufbewahrt wurde alles, was ab dem 1. Januar 1913 im Deutschen Reich, in Österreich und der Schweiz publiziert wurde. Ausgenommen waren die vor 1913 erschienenen Bücher und der Erwerb fremdsprachiger Literatur. Der Börsenverein garantierte, dass der Buchhandel seine Druckwerke kostenlos zur Verfügung stellt, so dass ein Pflichtexemplargesetz entfiel. Von 1914 bis 1916 entstand nach den Entwürfen von Oskar Pusch das Gebäude der Deutschen Bücherei.

Allerdings war die Deutsche Bücherei nicht unumstritten. Adolf von Harnack, ab 1905 Wilmanns Nachfolger als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek, sah sein Haus auf gutem Wege, eine Nationalbibliothek zu werden, wenn diese durch eine Etaterhöhung auch das restliche Drittel der deutschen Buchproduktion erwerben könne. Trotz aller guten Wünsche für die Leipziger Bücherei beanstandete er, dass eine deutsche Nationalbibliothek auch ausländische Bücher zu sammeln habe, auch um den Preis der Unvollständigkeit bei den deutschsprachigen Publikationen. So sagte er 1914: „Um der subalternen Vollständigkeit willen alles zu sammeln, nur weil es in deutscher Sprache gedruckt ist, kann daher nicht die Aufgabe einer deutschen Nationalbibliothek sein.“ Dieses ist umso bemerkenswerter, als die Nationalbibliotheken der westeuropäischen Großmächte, die Bibliothèque nationale in Paris und die Britisch Museum Library in London, die inländischen Veröffentlichungen ohne Einschränkungen erfassten. Harnack erzielte jedoch insofern einen späten Erfolg, als ab 1942 die Deutsche Bücherei schließlich auch ausländische Literatur sammeln sollte.

Nach der Teilung Deutschlands wurde 1946 in Frankfurt am Main die Deutsche Bibliothek gegründet. Im Zuge der Wiedervereinigung 1990 wurden die Bibliotheken zusammengeführt und mit dem „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ 2006 die Häuser in Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin in Deutsche Nationalbibliothek umbenannt. Bei einem Jahresetat von über 45 Millionen Euro sammeln und bewahren mehr als 600 Mitarbeiter 27 Millionen Medien aus Papier, Ton- und Datenträgern, in Mikroformen und neuerdings auch aus dem Internet. In Leipzig befinden sich außerdem das Deutsche Buch- und Schriftmuseum, das Deutsche Musikarchiv, die Sammlung Exil-Literatur 1933–1945 und die Anne-Frank-Shoah-Bibliothek. Ulrich Blode


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