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06.10.12 / Wie Harzsäure Hafffischer krank machte / In Ostpreußen grassierte die erste in Deutschland nachgewiesene Umweltkrankheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-12 vom 06. Oktober 2012

Wie Harzsäure Hafffischer krank machte
In Ostpreußen grassierte die erste in Deutschland nachgewiesene Umweltkrankheit

Ende September 1932 reiste der Berliner Ministerialrat Lentz nach Ostpreußen. Nach der Begutachtung eines gemeldeten Leprafalls in Heinrichswalde sollte er sich gemeinsam mit mehreren Königsberger Universitätsprofessoren der geheimnisvollen „Haffkrankheit“ widmen, über deren Auftreten in einigen Dörfern am Frischen Haff nahe von Königsberg berichtet worden war. Als typisch für die erstmals 1924 aufgeflackerte „Haffkrankheit“ galt, dass sie vor allem Fischer befiel. Teilweise trat die Krankheit bei den Fischern schon auf dem Wasser auf, teilweise erst nach der Rückkehr. Ihre Symptome waren immer Schmerzen im Kreuz, in den Beinen und Armen sowie um die Brust herum. Als klar erkennbares Zeichen war ärztlicherseits ein veränderter, dunkler Urin, zum Teil blutig rot, zum Teil schwarzbraun wie Kaffee, zu diagnostizieren. Die ersten drei Kranken wurden von der Expertenkommission in Groß-Heydekrug begutachtet. Nach der Untersuchung von zwei weiteren Krankheitsfällen in Peyse griff die Krankheit um sich, wobei ihre Allgemeingefährlichkeit offenbar wurde, was die Bevölkerung zunehmend verunsicherte. Lentz berichtete dem Innenminister darüber:

„Auf dem Wege von den Kranken zum Haff trafen wir dann aber vier weitere Fischer, die soeben mit ihren Booten zurückgekommen waren und von ihren Kameraden krank nach Hause geschafft wurden. Sie gaben uns an, dass sie am Montag zum Fang ausgefahren und zum Teil bereits vor zwei Tagen, zum Teil erst in der Frühe des letzten Tages erkrankt seien. Die Kranken konnten zwar noch gehen, klagten aber über große Steifigkeit und Schmerzen in den Gliedern. Der Versuch des Professor Aßmann, die Kranken zu bewegen, zu ihm in die Klinik zu kommen, wo er sie kostenlos aufnehmen werde, scheiterte an dem Widerstand der Kranken und ihrer Angehörigen. Anscheinend herrscht in den Kreisen der Fischer die Furcht, dass die Kranken in der Klinik lediglich als Versuchsobjekte dienen sollten und mit ihnen Experimente gemacht würden, die sie in ihrer Gesundheit beeinträchtigen könnten. Professor Aßmann nahm von den Kranken Blutproben und Professor Eichholz Urinproben sowie Fische mit, die die Leute von ihrem letzten Fang mitgebracht hatten, um an diesen Untersuchungen zu machen. In den beiden Orten Groß-Heydekrug und Peyse wurden uns auch Katzen gezeigt, die deutlich krank waren, abgemagert waren, eingefallene Flanken zeigten und zum Teil auf der Hinterhand beim Laufen stark wackelten. Die Leute gaben an, dass die Katzen mit Fischen gefüttert worden seien und danach erkrankt waren.“

Die Fischer berichteten den Medizinern über wahrgenommene Umweltveränderungen auf dem Frischen Haff. Es seien jetzt öfters Gerüche auf dem Wasser wahrgenommen worden, die von eigentümlichen Fäulnisvorgängen her­zu­rühren schienen. Ein erster Verdacht der medizinischen Spezialisten fiel auf die in das Frische Haff nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt eingeleiteten Gewerbeabwässer aus Königsberg.

Mittlerweile traten immer neue Fälle der „Haffkrankheit“ auf. Man zählte Anfang Oktober 1932 schon 36 Kranke und neben den Ortschaften Peyse, Zimmerbude und Groß-Heydekrug waren jetzt auch die Ortschaften Fischhausen, Rosenberg, Brandenburg und Marmeln mit je einem Krankheitsfall betroffen. Die entsprechenden Ortschaften erhielten einstweilen eine verstärkte medizinische Betreuung. Doch die „Haffkrankheit“ griff weiter um sich. Der Königsberger Regierungspräsident berichtete mit Stand vom 24. Oktober 1932, dass nunmehr 69 Personen erkrankt seien und ein erster Todesfall, der des 35-jährigen Fischergehilfen Karl Eim aus Peyse, zu beklagen sei.

Nun zeigten die unter größter Eile betriebenen medizinischen Forschungen an der Universität Königsberg erste Ergebnisse. Es wurde in Tierversuchen durch den Hygieniker Bürgers nachgewiesen, dass es sich bei der „Haffkrankheit“ nicht um eine Infektionskrankheit handelte. Stöltzner, dem Dekan der medizinischen Fakultät und Direktor der Universitätskinderklinik, gelang schließlich der entscheidende Durchbruch. Mit der zu den Carbonsäuren gehörenden Harzsäure, die sich im Holz der Zellstofffabriken befand und für diese ein Abfallprodukt darstellte, war es ihm gelungen, im Experiment bei Aalen und Katzen alle Symptome der „Haffkrankheit“ hervorzurufen.

Durch einfache und zudem billige Vorrichtungen chemisch-technischer Art war es möglich, fürderhin jenen Stoff aus den Fabrikabwässern zu entfernen. So gelang es durch einen Großeinsatz der Mediziner der Königsberger Universität, binnen sechs Wochen die Ursachen jener geheimnisvollen „Haffkrankheit“ zu entdecken und zugleich die notwendigen Maßnahmen zur Unterbindung weiterer Erkrankungen vorzuschlagen. An 400 gesundheitlich und wirtschaftlich geschädigte Fischer wurden staatlicherseits Subsidien ausgeteilt, um ihren zeitweiligen Einnahmeverlust zu decken. Das waren über 31 Prozent aller ostpreußischen Hafffischer. Immerhin war der Absatzverlust an Fischen wegen der kursierenden Gerüchte über die „Haffkrankheit“ so groß gewesen, dass die Fischer damit drohten, die städtischen Abwässerkanäle von Königsberg ins Haff, durch die alles Unheil hervorgerufen worden war, zuzuschütten.

Insgesamt traten bis zum 1. Dezember 1932 155 Fälle von „Haffkrankheit“ auf, die außer dem erwähnten Fall in Peyse noch ein weiteres Todesopfer in Waltersdorf forderte. Als Verursacher der Umwelterkrankung wurden seitens des damaligen Direktors des pharmazeutischen Instituts der Universität Königsberg eindeutig die chemischen Verunreinigungen der Abwässer durch die beiden Königsberger Zellstoffabriken Kosse und Liepe festgestellt, die allein so viel Abwasser ins Frische Haff einspeisten wie der Rest der Stadt Königsberg. Jürgen W. Schmidt


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