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06.10.12 / Warten auf die Kornmuhme / Jedes Jahr versuchte Großvater, die Geheimnisvolle zu jagen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-12 vom 06. Oktober 2012

Warten auf die Kornmuhme
Jedes Jahr versuchte Großvater, die Geheimnisvolle zu jagen

Rauschender Sensenschnitt, sinkende Schwaden, goldne Garben auf frischem Stoppelfeld gradlinig errichtet. Immer kleiner der Bereich, in dem sich die Kornmuhme versteckt halten kann. Strahlend blau war der Himmel. Bubi, mein Spielgefährte vom Nachbarhof und ich saßen am

Feldrain zwischen rotem und weißem Klee. Storchschnabel, Schafgarbe. Kamille und wildem Kümmel und sahen den Schnittern und Binderinnen bei der Arbeit zu. Zwar hätten wir lieber im Schatten eines der aus zwölf Garben bestehenden Hockenhäuschens gesessen, aber das durften wir nicht, es lastete ein Verweis meines Großvaters auf uns. Er hatte, nachdem unverhofft ein Garbengebäude einstürzte, das wir bewohnt hatten, energisch zu uns herübergerufen: „In den Hocken wird nicht herum kampiert! Runter vom Feld!“ Daraufhin waren wir gegangen und hatten uns am Rand, im Gras niedergelassen. Aber kampiert hatten wir gar nicht. Längere Zeit hatten wir sogar ganz still dagesessen. Bubi hatte an einem Ende herausgeschaut und ich am anderen. Nach einer Weile hatten wir unsere Plätze dann getauscht. Und später waren wir ein bisschen auf allen Vieren herumgekrabbelt. Rein und raus, rein und raus, einmal rechts und einmal links ums Hockenhaus herum. Und plötzlich war es zusammengesunken. Wie das geschehen konnte, wussten wir beide nicht. Wir hatten auch gleich versucht. die Garben wieder aufzustellen, aber das gelang uns nicht. Und dann war es auch schon zu spät gewesen. Großvater hatte, obwohl er weit von uns entfernt seine Sense schwang, unser Missgeschick bemerkt und uns sofort vom Feld geschickt. Nie zeigte er sich strenger, als bei der Roggenernte. Da sollte möglichst kein Halm geknickt und keine Ähre zertreten werden. Korn ist Brot und Brot ist heilig! Das bekamen wir immer wieder zu hören. Aber Brot interessierte Bubi und mich im Moment weniger als das Saftwasser in dem großen irdenen Krug unter dem kleinen Busch, vor dem wir saßen. Doch wir durften davon nicht nehmen. „Erst wenn alle da sind, gibt es zu trinken!“ hatte Mutter gemahnt. Das bedeutete, erst beim Kleinmittagsmahl, zur vormittäglichen Rast der Erntearbeiter. Bis dahin mussten wir warten. Dann war es endlich soweit. Sie kamen vom Feld und strebten dem Platz zu, an dem wir ausharrten, da unter dem Busch hinter uns nicht nur der Saftkrug, sondern auch der Vesperkorb stand, randvoll mit deftig belegten Brotschnitten. AIs Letzter gesellte sich Großvater hinzu. „Na, ihr Rabauken!“ sagte er zu uns gewandt. Aber er lächelte versöhnlich. Er legte behutsam seine Sense in das Gras, nahm Schluckerfaß von der Hüfte, in dem der Wetzstein und etwas Wasser waren, steckte es senkrecht in die Erde und ließ sich dann auch nieder. Als ich mein Saftwasser ausgetrunken hatte. schlich ich mich langsam an Großvaters Seite. Ich wollte mir in dem munteren Geplänkel und Gerede Gehör verschaffen. Die Fläche mit dem ungemähten Roggen war nicht mehr sehr groß, ich wollte wissen, wann ungefähr die restlichen Schwaden sinken würden. Wenn es hier draußen auch heiß und langweilig war, so wollten Bubi und ich den Moment, in dem die Kornmuhme von dem vor uns liegenden abgemähten Feld, in ein anderes, noch ungemähtes fliehen musste doch um keinen Preis verpassen. Gehorsam wartete ich eine Gesprächspause ab. Dann erkundigte ich mich. „Gegen Mittag werden wir fertig sein!“ antwortete Großvater mit Blick auf den noch ungemähten Teil. Bubi und ich strahlten uns an. Wir brauchten am Nachmittag also nicht mehr mit herauszukommen! Noch bevor zu Tisch gegangen wurde, würden wir erleben, worauf wir so sehnlich warteten, dass die Kornmuhme von Großvaters Feld floh und er, wie er gesagt hatte, die Sense hinter ihr herwerfen würde, um sie am Rockzipfel zu erwischen, wie er es, wie er versicherte jedes Jahr versuchte.

Die Arbeit ging bald weiter. Aber je länger wir hier warteten. desto langweiliger wurde es uns. Irgendwie gerieten wir dann in einen Streit bei dem wir unsere Aufmerksamkeit ganz und gar auf den jeweils anderen richteten. Und das Gezänk hielt einige Zeit an. In unsere Streitereien hinein hörten wir dann Großvater plötzlich rufen: „Seht! − Seht, da rennt sie!“ Wir sprangen auf und schauten erregt in die Richtung, wo Großvater stand. Aber wir sahen sie nicht mehr, die Geheimnisumwitterte. Wir sahen nur noch die Sense fliegen. Stumm standen wir da. Wir wollten nicht glauben, dass der Moment, um den es uns allein gegangen war, verpasst hatten. Wortlos gingen wir nach einer Weile davon. Seite an Seite. als hätte es einen Streit zwischen uns gar nicht gegeben. Und die Kornmuhme habe ich auch in den folgenden siebzig Jahren, die inzwischen vergangen sind, nicht zu Gesicht bekommen. Weder in der alten noch in neuen Heimat. Hannelore Patzelt-Hennig


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