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20.10.12 / Moll-Töne nach Jubel-Auftakt / Schriftsteller aus dem Nahen Osten berichten über Freud und Leid in ihren von der »Arabellion« betroffenen Ländern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-12 vom 20. Oktober 2012

Moll-Töne nach Jubel-Auftakt
Schriftsteller aus dem Nahen Osten berichten über Freud und Leid in ihren von der »Arabellion« betroffenen Ländern

Meinungsfreiheit, mehr Rechte für Frauen und keine staatliche Unterdrückung – darauf hatten viele gehofft, die in Tunesien, Libyen oder Ägypten die langjährigen Herrscher zu Fall brachten. Mittlerweile hat sich dort Ernüchterung breitgemacht. Denn die „Arabellion“ hat – vor allem in Ägypten – die Tür ausgerechnet dem fundamentalistischen Islam geöffnet. Ähnliches kann auch Syrien bevorstehen, sollte das Assad-Regime gestürzt werden. Für kritische Schriftsteller macht das die Lage nicht einfacher. Bei einem Literaturfestival in Hamburg gab es nun von zwei Autoren aus Ägypten und Syrien statt Dur- eher Moll-Töne zu hören.

Die Frage, welche Entwicklung die Gesellschaften der Staaten im Maghreb und im Nahen Osten nehmen werden, die bisher vom „arabischen Frühling“ erfasst wurden, beunruhigt die Europäer. Denn dieser Frühling, der mit der Hoffnung auf Demokratie verbunden war, verdient seinen Namen nicht mehr.

In Syrien mündete der Aufstand gegen das autoritäre Regime in einen blutigen Kampf, dessen Bilder die Welt seit nunmehr eineinhalb Jahren schockieren. Aufschlussreich sind die Stimmen von Schriftstellern zu den Ereignissen in ihren Heimatländern. Nicht nur aus diesem Grund hatten die Veranstalter des Hamburger „Harbour Front“-Literaturfestivals auch mehrere Schriftsteller aus dem Nahen Osten eingeladen.

So fand dort jetzt eine Lesung neuer Texte von Rosa Yassin Hassan aus Damaskus und Alaa Khaled aus Alexandria in Anwesenheit der Autoren statt. Die Texte wurden in deutscher Übersetzung vorgetragen. Anschließend unterhielten sich die Moderatoren Larissa Bender und Peter Meroth mit den Gästen über die aktuelle politische Lage.

Emotional und bisweilen feierlich im Ton waren die bildreichen philosophisch-poetischen Be­trachtungen von Alaa Khaled über die Massenproteste in Kairo und Alexandria im Januar und Februar 2011. Damals waren in Kairo jeden Tag Millionen Menschen auf den Straßen unterwegs, und gegen Abend versammelte sich eine große Menschenmenge auf dem Tahrir-Platz.

In Khaleds Heimatstadt Alexandria wurden Umzüge organisiert, an denen sich Hunderttausende beteiligten, um ihre Forderung nach Abdankung Mubaraks kundzutun. Der 1960 geborene ehemalige Heinrich Böll-Stipendiat Khaled ist als Poet, Essayist, Romanautor und Herausgeber ei­ner Kulturzeitschrift in den arabischen Ländern bekannt. In deutscher Sprache ist bisher wenig von ihm erschienen. Tief beeindruckt war er vom revolutionären Eifer der Massen, ein Eifer, der aus dem Nichts heraus entfacht wurde, denn während der Herrschaftszeit von Mubarak „war die Gesellschaft tot“, wie er sich ausdrückte. Mittlerweile seien aber Er­nüchterung und Enttäuschung eingekehrt, gleich jener uralten Trauer, die im Unterbewussten dieses Volkes verankert sei. Dass bei den Parlamentswahlen in der multikulturellen Hafenstadt Alexandria

60 Prozent der Wähler für die Ultrareligiösen gestimmt haben, erklärte der Autor mit dem Zuzug von vielen armen Bewohnern der ländlichen Regionen in die Außenbereiche der Stadt seit den 1970er Jahren.

Zuvor hatte Präsident Sadat eine ökonomische Öffnung eingeleitet, was zur Verarmung der Landbevölkerung und zu Landflucht führte. Die einfachen Menschen hätten sich verstärkt der Religion zugewandt. Es gäbe heute keine intellektuelle Mittelschicht mehr in Alexandria. Doch die Liebe zu Kunst und Kultur hätte sich in Alexandria von Generation zu Generation vererbt, und Pluralismus sei noch vorhanden. So hege er durchaus Hoffnung, meinte Alaa Khaled.

Nach einigen Verzögerungen war auch Rosa Yassin Hassan rechtzeitig zur Veranstaltung aus Syrien über Beirut angereist. Die 1974 in Damaskus geborene Autorin ist Journalistin und Gründungsmitglied des Vereins „Frauen für die Demokratie“. Auf Deutsch ist vor zwei Jahren ihr vielfach gelobter Roman „Ebenholz“ (Alawi Verlag Köln, 289 Seiten, 19,90 Euro) erschienen, in dem die Rolle der Frauen verschiedener Generationen einer syrischen Familie ausgeleuchtet wird. Demnächst wird ein zweiter Roman von ihr in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Rosa Yassin Hassan wirkte erschöpft. Nach Ausbruch der Unruhen in Syrien hatte sie sich entschieden, als Schriftstellerin nur noch dokumentarisch tätig zu sein. Sie hat viel gesehen und vor allem zugehört, seitdem sie den Alltag in Damaskus beobachtet und Interviews mit Zeugen und Opfern von Gewalttaten führt, sofern diese ihre Angst überwinden und bereit sind, Auskunft zu geben. Ihre Texte veröffentlicht sie auf einem Internet-Blog.

Die Situation in Syrien sei derzeit undurchschaubar, erklärte sie. Das Vorgehen des Assad-Re­gime bei der Bekämpfung der Aufständischen in den einzelnen Stadtvierteln laufe immer nach demselben Muster ab. Dem Prinzip der Sippenhaft entsprechend würde Rache genommen nach Einnahme der Viertel. Die Regierenden benutze Menschen, um zu foltern und zu töten. Oft seien es bezahlte Kämpfer. Es käme auch zu wahllosen Racheakten in Dörfern und Städten. Ganze Orte seien zerstört, Ernten verbrannt. Immer mehr Menschen hätten keine Bleibe mehr, alle lebten in ständiger Anspannung.

Doch die Blockade der Angst, die das Land vier Jahrzehnte in ihrem Bann gehalten habe, sei durchbrochen. Die Syrer fordern ihre Freiheit ein, doch der Preis ist sehr hoch. Rosa Yassin Hassan glaubt, dass sich die Auflehnung nicht nur gegen das Assad-Re­gime richte, sondern gegen alle Autoritäten.

Viel sprach sie über Kinder, denn auch sie hätten wie ihre Eltern das Duckmäusertum abgelegt. Kinder waren es, die mit ihrer Beschriftung einer Hauswand („Das Volk will den Sturz des Regimes“) die Bewegung auslösten. Früher seien sie von Lehrern und anderen Autoritätspersonen wie Häftlinge behandelt worden. Nun werden Kinder zu Opfern von Entführungen und Folter. Die Schriftstellerin wird als Gast der Heinrich Böll-Stiftung drei Monate in Deutschland bleiben. Dann wird sie bundesweit auf vielen Podien sitzen und nach der Lesung ihrer Texte von den verstörenden Ereignissen des syrischen Bürgerkriegs berichten. Dagmar Jestrzemski


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