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20.10.12 / Er prägte Deutschland / Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz arbeitet sich nun an Helmut Kohl ab

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-12 vom 20. Oktober 2012

Er prägte Deutschland
Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz arbeitet sich nun an Helmut Kohl ab

Er galt und gilt als Macht- und Vollblutpolitiker, als Kanzler der deutschen Einheit, als „Riese“ oder als der „Dicke“ – alles Charakteristika, denen Helmut Kohl nie widersprochen hat. In der Summe zeigt das einen ebenso großen wie umstrittenen Politiker, wie er bis heute im Gedächtnis nicht nur der Deutschen geblieben ist. Über ihn eine Biografie zu schreiben ist ein ebenso faszinierendes wie waghalsiges Unterfangen. Der inzwischen 78-jährige Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz, längst gerühmt als Biograf Konrad Adenauers und Geschichtsschreiber der („alten“) Bundesrepublik, hat sich an diese Herkulesarbeit gewagt; das Ergebnis ist eine historiographische Leistung, die ungeachtet mancher Kritik im Detail großen Respekt verdient.

Als „gutinformierten Zwischenbericht“ sieht Schwarz seine Arbeit, aber natürlich spürt man den Ehrgeiz, eine gültige Biografie vorzulegen, die auch durch spätere Aktenfreigaben nicht wesentlich revidiert zu werden braucht. Eine schier unglaubliche Fülle an Material ist eingebracht: Hunderte von Darstellungen und Zeitungsartikeln, mehr als 40 Interviews mit damaligen Ministern, Beamten oder anderen Akteuren (nicht allerdings mit Angela Merkel und Wolfgang Schäuble!); all das schlägt sich nieder in seiner Darstellung, die im ersten Drittel Kohls Werdegang bis 1982 schildert, dann im weitaus größeren Teil die 16 Jahre Kanzlerschaft, in die die deutsche Wiedervereinigung, sowie die Etablierung der Europäischen Union (EU) und der gemeinsamen Währung Euro fällt.

Unterteilt hat Schwarz seine Biografie in sechs große Kapitel. Zuerst schildert er den Werdegang des „Ludwigshafener Rabauken“ Kohl bis zur Ministerpräsidentschaft in Mainz 1969. Das zweite Kapitel berichtet über die für Kohl unglaublich harten Jahre als umstrittener CDU-Chef und Oppositionsführer in Bonn. Das dritte Kapitel, überschrieben mit „Ein mittelmäßiger Bundeskanzler?“, zeigt, wie sehr Kohl in der Innenpolitik ständig am Rand des Abgrunds stand, während er in seiner Europapolitik in zäher Arbeit vor allem mit und teilweise gegen Mitterand beim „Bau des europäischen Hauses“, so eine Lieblingsfloskel, Stein auf Stein setzte.

Das vierte Kapitel, nur auf die zwei Jahre 1989 und 1990 bezogen, zeigt Kohl im Zenit als Kanzler der deutschen Einheit, denen – so das fünfte Kapitel – fast unmittelbar die Jahre des Katzenjammers folgten, denn aus den versprochenen „blühenden Landschaften“ wollte und wollte nichts werden. Die Wahlniederlage 1998, die sich abzeichnete, die aber Kohl partout nicht sehen wollte, war fast folgerichtig. Das letzte Kapitel zeigt ein Bild des Jammers; durch die – selbstverschuldete! – Spendenaffäre ab dem Jahr 2000 verdunkelte sich das strahlende Bild. Zeitweise wurde der große Kanzler zum Ausgegrenzten; nur langsam setzte, auch infolge schwerer Schicksals- und Gesundheitsschläge, die öffentliche Rehabilitierung ein.

Schwarz schreibt eng am Leben und am Handeln Kohls; für die zeitgeschichtliche Einbettung hat er jedem Kapitel eine „Betrachtung“ angehängt, die in der Summe selbst eine Geschichte der Bundesrepublik sind. In der Innenpolitik war Kohl, so Schwarz, ein Pragmatiker, in der Europapolitik ein Gestalter, in der Abrüstungspolitik zeitweise ein Getriebener. Folgt man dem Autor, muss man annehmen, dass sich Kohl seit seinem Bonner Auftritt seiner innerparteilichen Widersacher erwehren musste, ja, dass er ständig deren Dolch im Gewande spürte; 1989 kam es auch fast dazu.

Übersehen wurde und wird bis heute Kohls bedeutendes Wirken in der Europapolitik; durch die Kriegserfahrungen traumatisiert, war ihm ein geeintes Europa ein Herzensanliegen, für das er kämpfte und wohl mitunter mehr gab, als aus deutscher Sicht zuträglich war. Hier ruft Schwarz übrigens nachdrücklich in Erinnerung, dass die gemeinsame Euro-Währung kein Preis für die Wiedervereinigung war, sondern dass sie bereits ab 1987 verhandelt und im Sommer 1989 so gut wie beschlossen war. Der französische Präsident Mitterand hatte hier mit kühlem Kalkül, die Dominanz der D-Mark in Europa zu unterbinden, den Euro durchgesetzt; Kohl handelte im Gegenzug die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) aus, wie wir sie heute in der EU vor uns haben und deren Unzulänglichkeiten erst in unseren Tagen angesichts der Euro-Krise deutlicher als damals zutage treten. Sollte das Euro-Projekt doch scheitern und auch die EU irreparablen Schaden nehmen, dann würde man, so Schwarz, bei Kohl, der sich ja für beide Vorhaben unermüdlich eingesetzt hat, nicht mehr von historischer, sondern von einer „tragischen Größe“ sprechen müssen. Immerhin, Größe bleibt, was die deutsche Einheit betrifft.

In Summa ein großes Buch. Kritische Punkte bleiben Marginalien. Der Hang des Autors, jeden, aber auch jeden Akteur in Politik und Presse mit einem oft etwas spöttischen Zusatz zu charakterisieren, fällt ebenso auf wie eine Neigung zu zugespitzten Formulierungen, die mitunter mehr die Lust am Fabulieren als an nüchterner historischer Beschreibung verraten (ob Kohl seinen Widersacher Helmut Schmidt wirklich „gehasst“ hat?). Aber das Buch gewinnt dadurch auch an Unterhaltungswert, was angesichts seines etwas einschüchternden Umfangs wiederum angemessen ist. Dirk Klose

Hans-Peter Schwarz: „Helmut Kohl. Eine politische Biografie“, DVA, München 2012, gebunden, 1056 Seiten, 34,99 Euro


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