19.04.2024

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03.11.12 / Ein deutsches Jahrhundert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-12 vom 03. November 2012

Moment mal!
Ein deutsches Jahrhundert
von Klaus Rainer Röhl

Wir sahen die Premiere des Films „Die Vermessung der Welt“. In einem der großen, wie eine Kathedrale gebauten Riesenkinos, nicht zu Unrecht „Cinedom“ genannt. Man hat die Vorführung der mit Spannung erwarteten Verfilmung des Bestsellers von Daniel Kehlmann vorsorglich in einen der kleineren Vorführräume verbannt. Die 3D-Fassung für die Kinder unserer Zeit, die selbst bei Märchenfilmen knallige Effekte gewöhnt sind und sich sonst durch Wegbleiben rächen, findet in einem größeren Saal statt. Noch in das Gezischel des Kinopublikums und in das Knirschen der Popcorns klatschen überlautstark Schläge, die jemand mit offenbar harten Schlaginstrumenten austeilt, auf nackte Hintern ärmlich gekleideter Kinder: Wir befinden uns in einer deutschen Schule irgendwo in Braunschweig – aber es könnte überall zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein. Doch wer die Prügel gleich zweimal bekommt, ist kein Geringerer als der junge Carl Friedrich Gauß, der eine endlose Additionsaufgabe in einer Minute löst, weil er erkannt hat, dass es eine Formel für die Lösung gibt.

So beginnt die Laufbahn von Deutschlands berühmtem Mathematiker, während der gleichaltrige Alexander von Humboldt in der Obhut seines adligen Elternhauses aufwachsen darf und alsbald in die Ferne zieht, um alles, was an dieser Welt noch unbekannt ist, zu finden, zu vermessen und zu registrieren. Mit den Instrumenten, die die Technik seiner Zeit gerade produziert hat, entdeckt er unbekannte Menschenrassen und nie zuvor erkletterte Gebirgsketten, unergründliche Urwälder und Flußmündungen. Was der Film, der dauernd auf optische und akustische Knalleffekte schielt, nur andeutungsweise über die Leinwand bringen kann, das Buch Kehlmanns aber ausführlich beschreibt, ist nicht Geringeres als der Aufbruch in die Neuzeit, die im 19. Jahrhundert begann und bis heute unser Leben bestimmt.

Was der Film verhampelt und verspielt, das Buch aber deutlich macht: Dieses Jahrhundert war von seinem Anfang bis zum Ende ein sehr deutsches Jahrhundert. Diese Epoche ist in letzter Zeit immer mehr Gegenstand von Romanen und Einzeldarstellungen gewesen. Auch große Frauengestalten wie Bettina von Arnim, Caroline Schlegel und Rahel Varnhagen von Ense wurden beschrieben. Und eben auch „Die Vermessung der Welt“ von Kehlmann. Das Buch ist eigentlich eine Werbung für Deutschland und – noch nicht verboten. Noch sind keine „Antifa-Bündnisse“ aufgetreten, geführt von der Partei „Die Linke“, um auch hier mit Bundesmitteln den „Kampf gegen Rechts“ zu führen. Im Gegenteil.

Viele Leser sind fasziniert von diesem Jahrhundert und voll unverkennbarer Bewunderung für die endlos lange, friedliche und produktive Zeit. Diese Faszination trieb vor einigen Jahren auch Grass um, und er bekannte das in seinem aufwendig schön gedruckten Buch „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“.

Es waren ja nicht nur die Brüder Grimm, die Humboldts und Gauß. Es gab, gestärkt durch die Erhebung gegen die Tyrannei Napoleons und das sich ausbreitende Gefühl, eine Nation zu sein, einen geradezu beispiellosen Aufbruch, eine Bildungs-Explosion, ein ganzes Jahrhundert lang – unsere Antwort auf die Französische Revolution.

Während die anderen Großmächte Europas ihre riesigen Kolonialreiche ausbauten und ausbeuteten, begannen Deutsche die friedliche Erkundung und Vermessung der Welt. Jeder zweite Gymnasiallehrer ein Forscher und Gelehrter. Nibelungenlied und Homer-Übersetzung, Freud und die Vererbungslehre von Mendel und selbst die Lehre von Karl Marx, als wichtiger und für alle Zeiten lehrreicher Fundamentalirrtum, gehören dazu.

Bildung gehörte zum Alltag, auch in der Provinz. Es sind die gleichen Schulmeister, die sich auf jedes Stückchen Mittelhochdeutsch (und Gotisch) gestürzt und die gesamten hinterlassenen altgriechischen Texte erforscht haben. Es gibt da ein Lexikon der Antike, den großen und den kleinen „Pauli“. Aber selbst der „Kleine Pauli“ hat vier dünn bedruckte Bände. Und wir sehen: Fast alle antiken Texte sind von Deutschen herausgegeben, übersetzt und kommentiert, nicht nur Homer und Platon, selbst die ganz belanglosen, jede überlieferte Zeile. Es gibt auch englische und französische Arbeiten über die Antike, aber sie sind in der Minderzahl. Groß und voran führend die Arbeit deutscher Altertumsforscher, die überall nach den Spuren der Antike suchen, Laien wie Schliemann und viele Fachkollegen, die Fundamente ausgraben und Fundamente für die Forschung legen.

Doch das Jahrhundert sah auch die Erkundung und Ausweitung der Grenzen menschlicher Kreativität. Das deutsche Jahrhundert brachte – gemessen an anderen Jahrhunderten – eine überbordende, nicht zu vermessende Fülle von Werken der Musik und der Literatur hervor.

Die intellektuelle Jugend und ihre Poeten, an ihren lokalen Standorten im zerrissenen und zerbrechenden Deutschland lange von Höfen und Spießbürgern unterdrückt, hatten zunächst die Französische Revolution stürmisch begrüßt. Die Shakespeare-Übersetzungen von Schlegel und Tieck lösen eine Kettenreaktion aus, die von Goethe, Schiller, Büchner, Kleist bis Gerhard Hauptmann reicht, und selbst heute, wenn auch in unsäglich verballhornter und verzerrter Form, noch ein Viertel unseres Theater-Reper­toires bestimmt. Die damals geschriebene Musik füllt im Jahr 2012 sogar immer noch zwei Drittel unserer Konzert-Programme. Von Mozart (der schon früher gelebt – und auch für die Französische Revolution geschwärmt hatte), Beethoven, Schumann, Schubert und Brahms bis zu Wagner.

Und dann auch noch Nietzsche. Er und Wagner wären allein genug, um das Jahrhundert glänzen zu lassen. Das ist mehr, als die Generation unserer Nachfahren hervorbringen wird, fürchte ich, wenn sie außer Bearbeiten, Interpretieren, Arrangieren und „downloaden“ überhaupt noch etwas zustande bringt. Ein Grünbein macht noch keinen Lyrik-Frühling. Und auch ein Kehlmann-Buch noch keine Epoche.

Ein deutsches Jahrhundert. Selten hört man es loben von unseren Nachbarn. Noch weniger von unseren Medien. Stattdessen an jedem zweiten Fernsehabend ausgedehnte „Enthüllungen“ und Dokumentationen über die Großmachtpolitik von Bismarck bis zum „Hunnenkaiser“, alle angeblich Vorläufer und Vorbereiter von Hitler. Bußpriester und Wanderprediger wie Daniel Jonah Goldhagen finden immer noch Anhänger und Nachläufer. Alle Deutschen seien immer nur kriegslüstern und aggressiv gewesen – hört sich das nicht ein bisschen nach Neid und Missgunst an? Kümmern wir uns nicht um die Agitatoren der Selbstzerknirschung und der Deutschfeindlichkeit. Freuen wir uns über unser Land und die Leistungen unserer Vorfahren. Seien wir den Menschen des 19. Jahrhunderts dankbar. Und denen, die es wagen, gegen den Zeitgeist zu schreiben wie Daniel Kehlmann.


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