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03.11.12 / Gralsburg aus Beton und Glas / Zwischen Bravorufen und Protestgeschrei: Deutsche Oper Berlin feiert 100 Jahre bewegte Musik- und Zeitgeschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-12 vom 03. November 2012

Gralsburg aus Beton und Glas
Zwischen Bravorufen und Protestgeschrei: Deutsche Oper Berlin feiert 100 Jahre bewegte Musik- und Zeitgeschichte

100 Jahre sind nicht viel für das Alter einer Operneinrichtung. Die Hamburger Oper blickt auf 320 Jahre zurück und die Berliner Lindenoper existiert schon seit 1742. Um diesem höfischen Lo­gentheater etwas entgegenzusetzen, gründeten selbstbewusste Bürger der damals noch autonomen Stadt Charlottenburg im Jahr 1912 eine eigene „Städtische Oper“ für Bürger, Beamte und Lehrer. Ihre Dimension war stolz. Sie verfügte über 2000 Sitzplätze und sogar über einen eigenen U-Bahn-Anschluss.

Vor 100 Jahren galten Opernhäuser noch als rentable Unternehmen. Die frisch gegründete Aktiengesellschaft erhoffte sich vor allem Gewinne aus den Opern Richard Wagners, die 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten unentgeltlich aufgeführt werden durften. Pünktlich zum

1. Januar 1914 hob sich darum für den ersten „Parsifal“ der Vorhang. Wagner prägte auch weiterhin das Repertoire. Die „Ring“-Inszenie­rung Götz Friedrichs, maßstab­setzender Intendant in den zwei Jahrzehnten 1980 bis 2000, gilt als legendär. Gerade feierte die „Parsifal“-Inszenierung des Film- und Opernregisseurs Philipp Stölzl ihre umstrittene Premiere.

Das Publikum der Deutschen Oper gilt als besonders buh- und applausfreudig. Ganze Künstlergenerationen hat es erlebt, Dirigenten von Bruno Walter bis Christian Thielemann, Sänger von Josef Greindl und Dietrich Fischer-Dieskau bis Matti Salminen, Regisseure von Wieland Wagner bis Hans Neuenfels. Und natürlich die ersten Aufführungen zeitgenössischer Komponisten von Puccini über Henze und Reimann bis Lachenmann. Während die musikalische Qualität konstant verlässlich war, sorgte die Politik für Wechselbäder.

Seit 1925 gehörte das Haus zur Stadt Berlin, unterstand seit 1934 den direkten Eingriffen von Propagandaminister Goebbels und wurde im November 1943 durch Bomben zerstört. Im September 1945 lief der Spielbetrieb schon wieder weiter, allerdings im „Theater des Westens“ in der Kantstraße. 16 Jahre später entschied der Architekt Fritz Bornemann den Wettbewerb um den Neubau für sich, da er den alten Grundriss des alten neoklassizistischen Baus einhielt. Am 24. September 1961 fand die Einweihung des neuen Hauses statt, knapp sechs Wochen nach der Errichtung der Berliner Mauer.

Alles war damals unsicher. Hier zu leben und zu arbeiten galt als Verrücktheit und Grunewald-Villen sollen damals nur 20000 Mark gekostet haben, erzählte die Sängerin Christa Ludwig in der neuen RBB-Operndokumentation „Ouvertüre 1912“. In jenen Jahren machte René Kollo zu jeder Premiere „20 bis 30 Leute von drüben“ aus, die nur zum Ausbuhen angereist seien.

Während der Mauerzeit gehörte die Deutsche Oper zu den wenigen repräsentativen Kulturhäusern der westlichen Stadt, die Staatsgäste besuchen konnten. 1967 wurde der Schah empfangen und in den anschließenden Protest-Tumulten in der Krummen Straße der Student Benno Ohnesorg erschossen.

Wie eine Trutzburg, fast wie ein Parkhaus wirkt der Neubau der Oper nach wie vor. Die über 60 Meter lange, viel geschmähte Waschbetonfassade soll den Lärm von der sechsspurigen Bismarck­straße abhalten. Eine vor der Frontseite platzierte, 20 Meter hohe Stahlskulptur von Hans Uhlmann, von den Berlinern „Schaschlikspieß“ genannt, sorgt allenfalls für weitere Irritation. Versöhnlicher stimmen die durchgehenden Glasfassaden an den Seiten. Und die klare klassische Aufteilung im Inneren bietet 60er-Jahre-Nostalgie mit dem Charme eines Zukunftsfilms aus alter Zeit.

Das riesige stimmungsvoll ausgeleuchtete Foyer dient der Begegnung, denn im Zuschauerraum blicken ja alle, anders als in goldverzierten Theatersälen, di­rekt nach vorne. Die knapp 2000 Sitzplätze, die die Deutsche Oper nach den Opernhäusern in München und Baden-Baden zur größten Oper in Deutschland erheben, bieten alle eine ungehinderte Sicht. Ferenc Fricsay, der bei der Wiedereröffnung 1961 den „Don Giovanni“ dirigierte, bescheinigte dem Haus „die beste Akustik einer Opernbühne“.

Applausrekorde hat sie auch zu bieten. Pavarotti erhielt 1988 als Nemorino im „Liebestrank“ über 100 Vorhänge und knapp 70 Minuten lang Beifall. Bei einer „Elektra“-Aufführung soll der Applaus länger gedauert haben als die ganze Oper. Der Opernchor unter der Leitung von Wil­liam Spaulding wurde von den Kritikern der Zeitschrift „Opernwelt“ dreimal hintereinander zum „Chor des Jahres“ gekürt und in diesem Jahr mit dem „Europäischen Chorpreis“ ausgezeichnet.

In ihrem 100. Jahr tischt die Deutsche Oper neben einer umfangreichen DVD-Opernedition und einem schweren Jubiläumsband mit lauter Erinnerungen von Künstlern, Mitarbeitern und Opernliebhabern auch mit Dietmar Schwarz einen neuen Intendanten, einen Opernblog (blog.deutscheoperberlin.de) und ein neues Logo auf. Ein senfgelber breiter Streifen steht als Abstraktion für die gestreckte Architektur und die breite Bühne der Oper. Der senfgelbe Streifen setzt sich bis in die neuen Kostüme und Schlipse des Opernpersonals fort.

Es gibt noch größere Neuerungen. Die ehemalige Opernschreinerei wurde in eine zweite Spielstätte, ein Laboratorium für zeitgenössisches Musiktheater und die Neudeutung alter Werke verwandelt. Im Sinne eines Arbeitsraumes heißt die neue Bühne weiterhin „Tischlerei“. Eröffnet wird sie am 27. November.

Das „Bildertheater“-Ensemble „Nico and the Navigators“, bekannt für ungewöhnliche Bach- und Rossini-Interpretationen, inszeniert mit Musikern und Sängern der Deutschen Oper „Mahlermania“, ein Stück um Kunst und Leben, Rausch und Leid im Leben Gustav und Alma Mahlers. Im nächsten Jahr widmet sich die „Tischlerei“ Kinder- und Kammeropern.

Ein weiteres neues Projekt für das Wagnerjahr 2013, den 200. Geburtstag des Komponisten, lautet „Der Ring – Next Generation“. Unter der Leitung der experimentellen Komponistin Alexandra Holtsch interpretieren 80 Jugendliche den „Ring des Nibelungen“ neu. Sie strebt es an, „klassische und elektronische Klänge aus­ufernd zu vermengen“. Hans Neuenfels, der in diesem Opernhaus zuletzt einen „Idomeneo“ inszenierte, der wegen der auf der Bühne präsentierten abgeschlagenen Prophetenköpfe zeitweilig abgesetzt wurde, sagte einmal: „Oper ist ein Rest von erlaubtem bezahlten Wahnsinn.“ In diesem Sinne erfindet sich die Deutsche Oper ständig neu und bleibt dadurch ganz bei sich. Dorothee Tackmann


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