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17.11.12 / Tochter der Dekadenz / Zeitloses Werk einer Exil-Russin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-12 vom 17. November 2012

Tochter der Dekadenz
Zeitloses Werk einer Exil-Russin

Als einziges Kind einer großbürgerlichen Familie wächst Hélène in Luxus, aber auch in Einsamkeit in St. Petersburg auf. Bei einem Vater, der nur die Vermehrung seines Vermögens im Kopf hat, und einer Mutter, die den lieben langen Tag dem Müßiggang oder der Liebe zu ihrem Liebhaber frönt, bleibt wenig Zeit und Verständnis für die Bedürfnisse eines heranwachsenden Kindes.

In dem Roman „Die süße Einsamkeit“ von Irène Némirovsky verbringt das Mädchen Hélène Karol seine Zeit mit Lesen und damit, seinen Eltern beim Leben zu zuschauen. Wie in einer Art Trance beobachtet es den Tagesablauf seiner Eltern. Nach außen hin ist Hélène Teil der Familie sowie ihre Mutter auch nach außen hin eine treue Ehefrau zu sein scheint, Hélènes Innerstes jedoch ist von tiefer Einsamkeit geprägt. Als Hélène alt genug ist zu begreifen, welche Rolle der junge Max im Leben ihrer Mutter spielt, versuchen ihre Eltern weiterhin stur, das Offensichtliche zu verdrängen.

„Die Februarrevolution brach los und ging vorbei, dann kam die Oktoberrevolution. Die Stadt, unter der Schneedecke verkrochen, war verstört. Es war ein Sonntag im Herbst. Das Mittagessen ging zu Ende. Max war da. Dichter Zigarrenrauch füllte das Zimmer. Man hörte das leise Knacken der in die Sessel eingenähten Dollarbündel und Bücher.“ Von den Erwachsenen unbeachtet beginnt Hélène in diesem Moment erstmalig, ihre Gefühle zu Papier zu bringen, und benennt auch Max’ Rolle als Liebhaber ihrer Mutter Bella beim Namen. Die Reaktion ihrer Eltern fällt aus wie befürchtet, als sie das Geschriebene entdecken.

Die Autorin Némirovsky schrieb den Roman „Die süße Einsamkeit“ bereits im Jahr 1935. Sie wurde 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren und musste mit ihren Eltern vor der Oktoberrevolution fliehen. Némirovsky wurde zum Star der Literaturszene in Paris. 1942 wurde sie deportiert und starb in Auschwitz. Ihr Roman „Suite francaise“ beziehungsweise „Die süße Einsamkeit“ wurde erst 60 Jahre später wiederentdeckt und zum Weltbestseller.

Betrachtet man die Kindheitsstationen der Autorin und die der Protagonistin, so lassen sich einige Parallelen erkennen. Interessant wäre es zu erfahren, ob auch die Autorin unter einem ähnlich ausgeprägten Mutter-Tochter-Konflikt litt und ob sie diesen auf die gleiche tragische Weise zu lösen versuchte wie die Protagonistin dieses Romans. Denn statt ihrer alternden, reuigen Mutter zu verzeihen, beginnt das zu einer jungen Frau herangereifte Mädchen, die Waffen zu nutzen, mit denen in jüngeren Jahren bereits ihre Mutter kämpfte. Doch ist Hélène noch zu unerfahren, um zu begreifen, dass sie mit dem Feuer spielt. „Langsam, allmählich wächst die verwerfliche Liebe. Schon hat sie ihre verschlungenen Wurzeln tief in das Menschenherz gesenkt, als die erste kümmerliche Blüte aufgeht. Sie ist so schwach, so klein, dass der Mensch, der sie betrachtet, sich weniger an ihr als an seiner eigenen Macht ergötzt.“

Auch heute noch verführt Irène Némirovsky den Leser mit eleganter Sprache, Dekadenz und großen Gefühlen. Vanessa Ney

Irène Némirovsky: „Die süße Einsamkeit“, Knaus Verlag München 2012, geb., 272 Seiten, 19,99 Euro


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