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24.11.12 / Erdogans stille Reserve / Türken drohen zur Minderheit im eigenen Land zu werden – Auslandstürken könnten Lage verbessern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-12 vom 24. November 2012

Erdogans stille Reserve
Türken drohen zur Minderheit im eigenen Land zu werden – Auslandstürken könnten Lage verbessern

Die vehemente Ablehnung der türkischen Führung gegen jede Form von Assimilierung der Auslandstürken in ihren Gastländern wird meist als Versuch Ankaras gewertet, Einfluss auf die EU zu gewinnen. Die Türken in Europa könnten in der Zukunft allerdings noch eine ganz andere Funktion erfüllen: die einer Bevölkerungsreserve für die Türkei selbst.

„Wir stehen vor einem großen Drama, einer großen Assimilierung.“ Es ist mal wieder schweres Geschütz, das von Bekir Bozdag, Vizepremier und Chef des Amts für Auslandstürken, in der Internetausgabe der „Hurriyet“ aufgefahren wird: 4000 türkische Kinder seien aus muslimischen Familien von Kinder- und Jugendämtern in der EU in christliche Familien gegeben worden, so die Behauptung von Bozdag, der darin eine Form von Zwangschristianisierung und Assimilierungspolitik sieht.

Die Vorwürfe des Vizepremiers kommen bekannt vor. Vor 16000 türkischen Zuhörern hatte im Jahr 2008 bereits Ministerpräsident Recep Tyyip Erdogan in Köln mit der Behauptung „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ provoziert. Die vorherrschende Deutung solch markiger Sprüche: Erdogan und seine Partei AKP versuchen, über die im Ausland lebenden Landsleute politischen Einfluss zu nehmen.

Wenig beachtet wird allerdings, dass es aus Sicht Erdogans noch andere Gründe gibt, sich weiterhin stark für die Auslandstürken zu interessieren: die demografische Entwicklung in der Türkei selbst. „Wenn wir den bestehenden Trend fortführen, wird (das Jahr) 2038 eine Katastrophe für uns kennzeichnen“, lautete eine in Deutschland kaum beachtete Warnung Erdogans vom Mai 2010. Was die türkische Führung umtreibt, ist nicht nur, dass die Geburtenrate der Türkei inzwischen unter die sogenannte Reproduktionsquote gefallen ist, die türkische Bevölkerungszahl also langfristig schrumpft. Parallel dazu wird der Anteil der kurdischen Bevölkerung immer größer.

Bereits seit den 1990er Jahren ist die Geburtenrate der Türkei kontinuierlich zurückgegangen, im Durchschnitt ist die Zahl der Kinder, von drei auf zwei gesunken. Hinter dem Durchschnittswert von 2,1 Kindern pro Frau für die gesamte Türkei verbirgt sich allerdings aus Sicht Erdogans politisches Dynamit. Im Westen der Türkei werden pro Frau statistisch nur noch 1,5 Kinder geboren – ein Wert, typisch für die schrumpfenden westeuropäischen Gesellschaften. Im fernen Osten und Südosten der Türkei – den Siedlungsgebieten der Kurden – liegt die Geburtenzahl dagegen bei 3,5 Kindern. Hält diese Entwicklung an, dann wird die Türkei immer kurdischer. 1930 galten lediglich neun Prozent der Bevölkerung als kurdischstämmig. Inzwischen ist der Anteil der Kurden auf über 15 Prozent gestiegen. Hält der Geburtenknick bei der ethnisch türkischen Bevölkerung und die Gebärfreude der kurdischen Frauen an, dann stellen die Kurden innerhalb von zwei weiteren Generationen in der Türkei die Bevölkerungsmehrheit, so die Befürchtung türkischer Nationalisten.

Noch hegt Erdogan die Hoffnung, den Trend etwa mit Hilfe einer großzügigen Familienpolitik wieder umkehren zu können. Beim Blick ins Ausland wird allerdings klar, dass eine derartige Trendumkehr bisher in keinem Land nachhaltig gelungen ist. Folge dieser Entwicklung könnte es sein, dass eine türkische Führung in den kommenden Jahrzehnten einmal vor einer schwerwiegenden Entscheidung stehen könnte: Eine Abtrennung kurdischer Gebiete, damit in einer verkleinerten Türkei die Türken eine ethnische Mehrheit bilden, oder aber akzeptieren, dass die Türken zu einer Minderheitsbevölkerung in einem mehrheitlich kurdisch geprägten Land werden.

Sollte die Entscheidung für einen Erhalt des Landes in seiner bisherigen Form fallen, könnten die im Ausland lebenden Türken noch einmal zu einer Trumpfkarte werden, um die Bevölkerungsanteile zugunsten der Türken zu stabilisieren. Möglich wäre dann, was heute noch vielen undenkbar erscheint: Ein Programm der türkischen Regierung, das gezielt nach ethnischen Gesichtspunkten Landsleute aus dem Ausland zurückholt, ein Rücksiedlungsprogramm. Assimilierte Auslandstürken, die sich ihrem Heimatland völlig entfremdet haben, wären bei einer solchen Art von Bevölkerungspolitik für Ankara kaum zu gebrauchen.

Wie taktisch die türkische Führung den Begriff „Assimilierung“ verwendet, lässt sich auch im Innern der Türkei beobachten: Während die Assimilierung im Hinblick auf die Auslandstürken als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gebrandmarkt wird, nimmt in der Türkei der Druck auf die rund zehn Millionen Aleviten immer mehr zu, sich der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit anzupassen. Immer offensichtlicher ist das Scheitern solcher Assimilierungsversuche bei den Kurden: Nur wenige Tage nach dem jüngsten Deutschland-Besuch Erdogans haben die Kurden einen entscheidenden Punktsieg davon getragen und den türkischen Regierungschef nebenbei gleich noch blamiert. Noch gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Erdogan behauptet, in türkischen Gefängnissen würde es keinen Hungerstreik kurdischer Häftlinge geben. Nur wenige Tagen später erfolgte dann ein Einlenken der türkischen Regierung: Unter dem Druck von Hungerstreiks in Gefängnissen musste sie einwilligen, dass vor Gerichten künftig die kurdische Sprache zugelassen wird. Norman Hanert


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