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24.11.12 / Überlebenskampf im Hungerwinter / Aus den Erinnerungen eines Wolfskindes

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-12 vom 24. November 2012

Überlebenskampf im Hungerwinter
Aus den Erinnerungen eines Wolfskindes

Das Wiedersehen der beiden Königsberger Nachbarskinder, über das wir in unserer heutigen Kolumne berichten, löst mit Sicherheit bei anderen Leserinnen und Lesern auch eigene Erinnerungen aus. Bei denjenigen, die damals nach missglückter Flucht in der zerstörten Heimat zurückgeblieben waren und ziellos herumirrten oder als bettelnde Kinder nach Litauen gingen. Die einem Hungerwinter entgegensahen, von dem sich die heutige Generation keine Vorstellung machen kann, wenn sie von Armut spricht. Eine von ihnen ist Gertraud Gross, die in ihrem Buch „Wolfskind Traute“ diese bittersten Jahre ihres Lebens festgehalten hat. Wir haben über dieses Buch schon in Folge 18 ausführlich berichtet – ich hole es jetzt noch einmal hervor und will einige Stellen bringen, die an diesen ersten Bericht anschließen und von dem Hungerwinter 1946/47 berichten, der für die damals neunjährige Traute und ihre ältere Schwester Elfriede zum Überlebenskampf wurde. Ihre Mutter war verhungert wie auch die beiden jüngeren Geschwister. So zogen die beiden Mädchen bettelnd durch das nördliche Ostpreußen, ihre engere Heimat, denn in Langenfeld stand – und steht noch – ihr Elternhaus. Im Sommer hatten sie sich noch von Feldfrüchten ernährt, die sie unter Lebensgefahr von den von Russen bewachten Feldern holten. Aber nun war es Spätherbst geworden, der Winter stand vor der Türe, ein harter ostpreußischer Winter, der schon früh begann. Gertraud Gross erinnert sich: „Es kamen die ersten Nachtfröste. Wir waren in einem Dorf bei Labiau, Krasdorf, und mitleidige Russen nahmen uns auf. Elfriede kam zu Kaukasiern, es waren ganz schwarzhaarige Leute, sie hatten, als sie ein Kind bekamen, eine Kartoffelkiepe mit Stricken an die Decke gehängt und schaukelten so ihr Kind. Mich nahm ein Armeearzt auf. Er war gut zu mir, ließ mir Kleidung anfertigen, sogar einen gesteppten Mantel, schickte mich auf die russische Schule. Er hatte ein Einfamilienhaus bezogen, das mit einem Zaun umgeben war. Elfriede ging es nicht so gut. Seitdem die Leute ein Baby hatten, wurde das Essen knapp, und sie schickten Elfriede weg. Sie kam zu mir ans Haus, und ich warf ihr Essen aus dem Fenster, dabei sind ihr die Hunde zum Verhängnis geworden. Einer biss ihr ein Stück Fleisch aus dem Bein. Die deutsche Haushälterin hatte wohl mitbekommen, dass ich Elfriede mit ernährte, sie war sehr böse zu mir. Als der Arzt nach Moskau versetzt werden sollte, wollte er mich mitnehmen, Elfriede nicht. Wir haben uns beraten und entschlossen wegzulaufen. Ich hatte meinen Steppmantel an und nahm so viel ich tragen konnte Lebensmittel mit. Die waren bald aufgegessen, der Hunger kam wieder, schlimmer als wir es je erlebt hatten. Der Mantel, die Schuhe verschwanden für Essen. Für den Mantel haben wir eine Kohlrübe bekommen. Statt Schuhe hatten wir die Füße mit Lumpen umwickelt, darüber Draht, damit es Halt bekam. Wir umkreisten die Standorte der Armee. Dort, wo ihre Küchenabfälle landeten, hatten wir das Glück, Fischköpfe, Kohlstrünke und Ähnliches zu finden, wenn niemand vor uns da war. In diesem Winter verhungerten mehr Deutsche als überlebten. Das Zauberwort war ,Litauen‘, aber wir wussten nicht, wo das ist und wie man dorthin kommt. Ach, wie vermissten wir unsere Mutter, wie erzählten wir vom Essen und dem schönen Zuhause. Wie schön war es, bei Mutter in die Armbeuge gekuschelt einzuschlafen.

Es war ein eiskalter entsetzlicher Winter 1946/47 für alle Überlebenden. Es gab keine Haustiere mehr und Schauergeschichten wurden erzählt … Ganz selten hat es eine Schöpfkelle Kascha von den Russen gegeben, sicher war es ihnen verboten worden, Deutsche durchzufüttern. Die einfachen Muschiks mussten auch hungern, man sah sie ihre ,Ziegenbeinchen‘ drehen, Machorka und die Zeitung ,Wahrheit‘ ließen sich gut rauchen. Noch ein bisschen Wodka dazu, sie waren zufrieden. Ein bisschen leichter wurde es, als die Bäume wieder Knospen bekamen und die Vögel zu nisten begannen. Dann hatte ich viel Erfolg beim Nester ausnehmen – verzeiht mir, ihr Vögel. Wir waren in der Zeit die Wolfskinder – friss oder du wirst gefressen, vom Tod.“ Soweit einige gekürzte Stellen aus dem Buch von Gertraud Gross „Wolfskind Traute“, in dem sie mit ergreifend klaren Worten und ohne Selbstmitleid von diesen Schick­salsjahren ihrer frühen Kindheit erzählt. Das war Armut, bitterste Armut. Man sollte mit diesem heute viel zitierten Wort doch etwas vorsichtiger umgehen und es wirklich dort verwenden, wo es angebracht ist. (Gertraud Gross „Wolfskind Traute. Ein Tatsachenbericht“, herausgegeben von Dodo Wartmann, epubli, Berlin 2011, 84 Seiten, 9,95 Euro, ISBN 978-3-8442-1232-7.) R.G.


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