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01.12.12 / Singsang boxt sich durch / Erst Film, jetzt Musical: Die Aufführung von »Rocky« zeigt, dass die boomende Musicalindustrie vor nichts haltmacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-12 vom 01. Dezember 2012

Singsang boxt sich durch
Erst Film, jetzt Musical: Die Aufführung von »Rocky« zeigt, dass die boomende Musicalindustrie vor nichts haltmacht

Bevor eine Musical-Großproduktion nach Deutschland kommt, muss sie entweder in New York oder London erfolgreich gelaufen sein. Das war so bei „Cats“, „Evita“ oder „Starlight Express“. Mit dem elf Millionen Euro teuren Boxerdrama „Rocky“ ist es andersherum: Es soll sich von Hamburg aus weltweit durchboxen.

Die beiden Boxweltmeister Vitali und Wladimir Klitschko streckten die Hände wie zum Sieg in die Höhe, als hätten sie gerade einen Kampf gewonnen. Dabei waren sie nur Zuschauer eines Bühnenkampfes, an dem sie gemeinsam mit Filmstar Sylvester Stallone als Koproduzenten beteiligt sind. Das Musical „Rocky“, das auf Stallones Oscar-prämiertem Kinofilm von 1976 basiert, landete im Hamburger Operettenhaus einen Punktsieg. Dem stimmten hinterher selbst die vielen Musicalmüden Kritiker zu.

Die fabrikmäßig geplanten Musicals, die ein breitgefächertes Publi­kum an­sprechen sollen, sind nicht jedermanns Geschmack. Der Markt scheint gesättigt. Vor „Rocky“ quälte sich „Sister Act“ zwei Jahre lang durchs Operettenhaus. Aktuell laufen in der Hansestadt mit „König der Löwen“ und „Tarzan“ zwei weitere Mega-Produktionen schon seit Jahren.

„Rocky“ will das übertreffen. Und die Vorzeichen stehen gut. Mit den Klitschko-Brüdern und Stallone hat die federführende „Stage Entertainment“ im Vorfeld drei prominente Zugpferde vor den Werbekarren gespannt. Bei einem WM-Kampf Wladimir Klitschkos stieg Stallone mit in den Boxring und konnte vor einem Millionen-Fernseh-Publikum kostenlose Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Bislang ging die Rechnung auf, sind doch bis Januar alle Vorstellungen ausverkauft.

Damit sich die Herstellungskosten von elf Millionen Euro einspielen, muss das Musical aber mindestens 13 Monate lang vor ausverkauften Rängen laufen. Die Gefahr, dass die Zuschauer von einem schwitzenden und mit Kunstblut befleckten Boxer abgeschreckt sein könnten, entschärften die Macher mit dem Hinweis, dass es sich in erster Linie um eine Liebesgeschichte handele. Der Mix aus brutaler Aufsteiger-Saga und seichter Romanze hat ja auch Stallone mit seinem Kinofilm, dem fünf Fortsetzungen folgten, aus dem Nichts heraus zum vielfachen Millionär gemacht.

Und noch ein anderes Erfolg anziehendes Pfund hat man in der Tasche: Hamburg selbst. Denn nach New York und London ist die Hansestadt die drittgrößte Musicalmetropole weltweit. Jährlich schauen sich hier zwei Millionen Menschen ein Musical an, mindestens 1,7 Millionen kommen von auswärts angereist und übernachten in der Stadt. Wenn jeder rund 250 Euro allein für Ticket und Hotelkosten ausgibt, kommen dabei insgesamt eine halbe Milliarde Euro heraus. Ein Riesengeschäft für Musicalbetreiber und Hotellerie. Und nebenbei profitieren auch andere Theater, Museen und Geschäftsinhaber von diesem Ansturm auf die Shows. Denn oft kommt man gruppenweise aus allen Ecken Deutschlands angereist und nutzt den Aufenthalt in der Stadt zu weiteren kulturellen Besuchen. Laut einer Studie der Hamburg Touristik wird das Bild der Kulturstadt Hamburg bei 30 Prozent der Befragten von den Musicals geprägt, erst dann folgt der Hafen mit 22 Prozent.

Das Afrika-Epos „König der Löwen“, das seit genau elf Jahren in einem zeltähnlichen Theater an der Elbe läuft und inzwischen mehr als acht Millionen Besucher angezogen hat, verbindet beide Attraktionen: Musical und Hafen. Denn wer sich das Stück ansehen will, muss sich mit einer Hafenfähre ans gegenüberliegende Ufer übersetzen lassen. 2014 soll direkt daneben eine neue Bühne entstehen. Und mit einem weiteren Theater, das an den Großmarkthallen am Hafen geplant ist, bietet die Stadt zukünftig fünf große Musicalhäuser auf.

Daneben locken auch die kleineren Bühnen wie der Delphi-Showpalast, das St. Pauli-Theater, das Schmidts sowie Schmidts Tivoli das Publikum mit seichtem Musiktheater an. Bei Hamburgern ein Hit ist „Heiße Ecke“, ein ironisch-verkitschtes Stück über die Reeperbahn, das seit 2003 als Repertoire-Stück im Wechsel mit anderen Werken im Schmidt-Theater zu sehen ist.

Mit der Zielgruppe eines vorwiegend auswärtigen Publikums läuft „Rocky“ wie auch „König der Löwen“ im Hafen oder „Tarzan“ im Theater Neue Flora en suite, das heißt ununterbrochen mit bis zu sieben Tagen in der Woche und zu­sätzlichen Nach­mittagsvorstel­lungen zur Weih­nachtszeit. Eine unglaubliche Belastung für die gesamte Crew, die nur durch knallhartes Unternehmensmanagement möglich ist, bei dem das Künstlerische meistens auf der Strecke bleibt.

Wer sich heute „Rocky“ ansieht, erlebt eigentlich nur einen Premieren-Klon mit anderen Darstellern. In dieser Musical-Industrie muss pro Abend für jede Rolle eine Zweitbesetzung verfügbar sein. Für Hauptrollen werden regelmäßig neue Darsteller angelernt. Wer einen Vertrag erhält, hat das große Los gezogen und bezieht über längere Zeit ein regelmäßiges Einkommen, was bei Schauspielern selten der Fall ist. Doch kein Sänger ist in der Lage, über Jahre hinweg dieselbe Partie zu mimen. Es wäre zu strapaziös. Ständig werden weltweit neue Sänger gecastet, die meisten kommen aus den USA, nur wenige sind Deutsche. Der gegenwärtige „Rocky“-Darsteller Drew Sarich stammt aus dem US-Staat Missouri, seine Partnerin Wietske van Tongeren ist Holländerin.

In einem Crash-Kurs müssen die internationalen Darsteller Deutsch lernen. Entsprechend akzentbelastet klingen die deutschen Lied- und Sprechtexte, und nur wenn man sich wie bei der originalen Filmmusik „Eye of the Tiger“ auf Englisch austoben darf, reißt es alle aus den Sitzen.

Dass ein Musical meist nur um einen Ohrwurm herum zum Erfolg wird, hat Tradition. Bei dem britischen Komponisten Andrew Lloyd Webber, der mit „Cats“ 1986 in Hamburg den Musicalboom auslöste, war es nicht anders. Seine Stücke „Cats“ („Memory“), „Evita“ („Don’t Cry for Me Argentina“) oder „Phantom der Oper“ (gleichnamiges Lied) haben oft nicht mehr als einen Hit zu bieten.

Wie anders war es zu Zeiten, als das Operettenhaus, in dem jetzt „Rocky“ boxt und davor schon fast 15 Jahre lang die „Cats“ miauten, seinem Namen gerecht wurde. Die Operetten von Strauß, Lehár oder Kálmán strotzten vor Melodien. Doch der Krieg unterbrach diese Tradition und Operetten wurden in den 50er Jahren durch die damals vom Jazz beeinflussten US-Musicals verdrängt. So boxt sich jetzt „Rocky“ durch und nicht Max Schmeling. Ein Musikstück über ihn – das wäre doch mal was. Harald Tews


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