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01.12.12 / Mit Bibel und Pinsel gemalt / Ungläubig und doch religiös: Münster zeigt Werke von Marc Chagall zum 125. Geburtstag des Maler-Poeten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-12 vom 01. Dezember 2012

Mit Bibel und Pinsel gemalt
Ungläubig und doch religiös: Münster zeigt Werke von Marc Chagall zum 125. Geburtstag des Maler-Poeten

Gleich drei große Ausstellungen erinnern an den 1887 als Mojscha Segal im weißrussischen Witebsk geborenen expressionistischen Maler Marc Chagall. Die Moskauer Tretjakow-Galerie beschäftigt sich mit seiner „künstlerischen Sprache“, will eigentlich aber den Russen, ihren genialen Landsmann, den sie nur dem Hörensagen nach kennen, erst einmal nahe bringen. Im französischen Roubaix be­schäftigt man sich mit Chagalls Träumen, und im Picasso-Museum Münster geht es bis zum 13. Januar 2013 um „Chagall und die Bibel“, was laut Münsteraner Lokalpresse „verspricht, eine der erfolgreichsten Ausstellungen der Museumsgeschichte zu werden“.

„Marc Chagall hat sich mit theologischen Inhalten beschäftigt, war aber kein Theologe, der auch malte“, besagt Münsters gescheites Konzept. Mehr noch: Chagall bezeichnete sich selber als areligiös: „Ich gehe nicht in die Kirche, ich spreche keine Gebete. Meine Arbeit ist mein Gebet!“ Die Bibel war ihm „reine, engagierte Poesie“, auf die ihn in Paris 1911 Ambroise Vollard, der große Förderer der künstlerischen Moderne, verwiesen hatte und die ihn über vier Jahrzehnte nicht mehr losließ. Nicht wenige Kunsthistoriker sprechen hier von seiner „eingeborenen jüdischen Mystik“, was immer das bei dem russisch-französisch-amerikanischen Juden Chagall, der 1978 Ehrenbürger Israels wurde, bedeuten mochte. Die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan, die bis zu ihrem Tod 1927 in Russland lebte, zeichnete ein spöttisches Porträt Chagalls, das aber dessen inspiratorisches Zentrum eher im Blick hatte:

„Chagall sieht aus wie ein Barbier aus einem jüdischen Marktkaff. Die Farben seiner Kleidung und seine jüdische ,Schtetl‘-Romantik überträgt er auf seine Bilder. Er ist in den Bildern kein Europäer, sondern ein Witebsker. Marc Chagall gehört nicht zur ,kultivierten Welt‘. Er hat es fertiggebracht, in Paris und Petersburg ein Witebsker zu bleiben.“

Details kann man in Münster bewundern: Im alten Witebsk „arbeiteten“ über 120 christliche, orthodoxe und jüdische Kirchen, so dass der Witebsker Chagall alltäglich eine „ökumenische Bilderschau“ erlebte und die Symbole und Darstellungen aller Konfessionen in sich aufnahm. Chagalls Judentum war seine Anhänglichkeit an die Witebsker Heimat – seine künstlerische Bildersprache lebte dauer­haft von den Eindrü­cken seiner Kindheit und Jugend in Witebsk, bis hin zu typischen Witebsker Gauklern, welche die Jakobsleiter empor klettern.

In Münster sind rund 180 Werke Chagalls zu sehen, in Roubaix sogar über 200. Chagall zeichnete eine immense technisch-handwerkliche Vielfalt aus und verwendete viele künstlerische Hilfsmittel: Pinsel, Stift, Tusche, Gouache, Aquarell, Kaltnadel, Ätzplatten, Farb­lithographie, Ke­ramik und viele weitere. Hinzu kamen die „Eigenheiten“ des Künstlers: keine Bleistiftskizzen vorab, sondern gleich in Farbe ans Werk, Nachkolorierung ungezählter Blätter, eigene Benennung der eigenen Bilder, was damals höchst ungewöhnlich war, in diesem Falle aber Chagalls poetische „Quellen“ verrät. „Le poète“ hieß der Maler-Poet schließlich nicht zufällig bei seinen Pariser Freunden.

Diesem technischen Aspekt widmet Münster viele erklärende Hinweise, noch mehr jedoch Chagalls Kosmos der Themen und Sujets. Ausgenommen Kains Brudermord und den Turmbau zu Babel fehlen kaum ein biblisches Thema und eine Gestalt der Bibel, wobei jüdische und christliche Elemente eine oft kühne Koexistenz offenbaren: Moses, Jesaja, David, die Propheten, Hiob, Kreuzigung und Kreuzesabnahme von Jesus, Exodus samt Anspielung auf das Schiff „Exodus“ von 1948.

Wenn, wie in Münster betont wurde, Chagall von seinen „theologischen Vorlieben geleitet“ wurde, dann waren diese wahrhaft enzyklopädisch, und wenn er – eigener Einschätzung zufolge – ein „bewusst unbewusster Maler“ war, dann doch ein ungemein sympathischer. Der 1985 im Alter von 97 Jahren an der Côte d’Azur gestorbene Chagall markiert den „Triumph des Herzens“, der anders als Picasso um Selbstinszenierung und Kunstmarkt völlig unbekümmert war. Wolf Oschlies


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