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08.12.12 / »Gulliver bei den Japanesen« / Weltumsegler erfindet Nippon neu und entdeckt sich selbst

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-12 vom 08. Dezember 2012

»Gulliver bei den Japanesen«
Weltumsegler erfindet Nippon neu und entdeckt sich selbst

Japan als Projektionsort für einen Mann auf Sinnsuche, zu einer Zeit, als sich das fernöstlichste Land noch gänzlich vom Rest der Welt abgeschottet hält – davon handelt der neue, fantastisch-historische Roman „Löwenstern“ von Adolf Muschg.

Die Rede ist von dem livländischen Krautjunker Hermann Ludwig von Löwenstern (1777–1836), der als Seeoffizier an der ersten russischen Weltumsegelung unter Adam von Krusenstern von 1803 bis 1806 teilgenommen hat. Muschg erzählt von Löwensterns Bestreben, in das geheimnisumwobene Japan zu gelangen, um als ein „neuer Gulliver“ die berühmte Romanserie „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift mit einem Band über die „Japanesen“ – wie die Japaner in dem Buch bezeichnet werden – zu vollenden.

Im Nachwort beteuert der 1934 geborene Schweizer Schriftsteller seinen Lesern, dass ihm während eines Aufenthalts in Estland 2011 handschriftliche Aufzeichnungen Hermann von Löwensterns aus Privatbesitz überlassen worden seien. Es handele sich um eine Abschrift von Romanfragmenten und Briefen, die Löwenstern zwischen 1800 und 1826 an eine unbekannte Exzellenz geschrieben habe. Antworten auf die Briefe, sofern es welche gab, seien nicht enthalten.

Das Kernstück seines Romans besteht aus den (fiktiven) Briefen Löwensterns an jene Exzellenz, die er seinen Paten nennt. Vermutlich ist Goethe gemeint, die Exzellenz in Weimar, da Goethe eine wichtige Nebenrolle im Handlungsablauf zugedacht wurde. Der Autor hat hierfür die Spuren gelegt: Löwenstern dürfte Goethe gleichsam als Paten seines japanischen Reise- und Buchprojekts betrachtet haben, hatte er Letzteres doch im Jahr 1800 während eines Besuchs von Löwenstern in Weimar abgesegnet. Das Plauderstündchen zu zweit im Urbinozimmer des Hauses am Frauenplan gehört zu den Glanzlichtern des Buches.

In seinem Roman bezieht sich Muschg auf die beiden historischen Forschungsexpeditionen der Russen zu den Gestaden des Fernen Ostens am Anfang des 19. Jahrhunderts und auf die da­rüber publizierten Zeitzeugenberichte. Bereits 1815 erschien der Bericht des Expeditionsleiters Wassili Golownin über seine Gefangenschaft in Japan von 1811 bis 1813, während das Tagebuch Hermann von Löwensterns, das er während der Weltumsegelung unter Krusenstern 1803 bis 1806 geführt hat, erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde. Die Annahme liegt nahe, dass dieses Tagebuch den Autor auf die Idee zu dem ungewöhnlichen Romanvorhaben gebracht hat.

Muschgs Hermann von Löwenstern ist ein Kritiker des erbarmungslosen Kolonialismus, dessen Basis eine anmaßende Haltung der Europäer gegenüber den Eingeborenen war, in diesem Fall also den Japanern. Im Roman sind sie als überaus kultiviert beschrieben und werden als die besseren Menschen dargestellt. Der Autor schreibt Hermann von Löwenstern einen weiteren Versuch zu, nach Japan zu gelangen. Doch die Teilnahme an Wassili Golownins Forschungsfahrt zu den Kurilen im Jahr 1811 sei ihm verwehrt geblieben; aufgrund einer Eingabe jener Exzellenz an den Zaren, wie es heißt. Die beiden Bände Golownins von seiner Gefangenschaft in Japan erhält Muschgs Löwenstern postalisch von Goethe, der sie ihm zum Lesen empfiehlt und ihn zugleich ermuntert, seinen Schmöker „Gulliver bei den Japanesen“ zu Papier zu bringen, wenn auch als nachgestelltes Reiseabenteuer anhand der Erlebnisse eines anderen. Zuletzt müssen noch Löwensterns Unsicherheit und seine Sinnkrise therapiert werden, wofür eine nicht mehr junge, ehemalige Prostituierte aus Petropawlowsk zuständig ist.

Was den Autor dazu bewogen hat, seinen ohnehin schon stark befrachteten Roman im vorletzten Abschnitt noch mit einem kruden esoterisch-pornographischen Brei aus Seelen- und Selbsterfahrungskunde zu beschweren, bleibt sein Geheimnis. Das ist der Absturz der modernen „Gullivernade“. Dagmar Jestrzemski

Adolf Muschg: „Löwenstern“, Verlag C.H. Beck, München 2012, gebunden, 331 Seiten, 19,95 Euro


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