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12.01.13 / Rückschau auf glückliche Kinderjahre / Lebensmittelpunkt in Ostpreußen war die Familie − Natur bot viel Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit, Abenteuer zu erleben Heimat ist nicht Hülle und Gewandung − die man wechselt, die ein Wind zerstört! − Heimat ist ein Schicksal, Grund und Landung, was uns tiefst und ohne Tod gehört.

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-13 vom 12. Januar 2013

Rückschau auf glückliche Kinderjahre
Lebensmittelpunkt in Ostpreußen war die Familie − Natur bot viel Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit, Abenteuer zu erleben Heimat ist nicht Hülle und Gewandung − die man wechselt, die ein Wind zerstört! − Heimat ist ein Schicksal, Grund und Landung, was uns tiefst und ohne Tod gehört.

Gertrud von der Brinken

Kinderjahre in Mykossen, in der Geborgenheit des Elternhauses, das war eine glückliche Zeit! Sie ist mir zum Inbegriff von Heimat geworden. Nun, da ich Rück-schau halte, werden alle Erinnerungen an ungezählte Erlebnisse und Geschehnisse wieder lebendig, die ich an dieser Stelle nur in einigen Auszügen wiedergeben kann. Doch ich spüre dabei erneut die tiefe Verwurzelung in der Heimat.

Mein Vater kaufte nach seiner Heimkehr aus dem Kriege Mykossen, ein kleineres Gut, etwas außerhalb des Dorfes gelegen. Dort wurde ich 1920 geboren und auf den Namen Eva Leonore getauft, aber immer nur Evchen gerufen. Zwei Jahre später kam meine kleine Schwester Annemarie, genannt Miezel oder Annemie zur Welt. Zu unserem Lebenskreis gehörten Vater, Mutter und „Muttis Oma“, dazu Male, das Kindermädchen, die Mädchen in der Küche. Auf dem Hof waren es vor allem der Kutscher Adolf Mauszik und seine Frau Frieda, der Kämmerer Schick, der Schweizer Schläger und all die anderen Leute und ihre Kinder waren unsere Spielgefährten. Nicht zu vergessen all die großen und kleinen Tiere: Die Schäferhunde Kora und Rolf, Pascha, die große Dogge im Zwinger, der angriffslustige Hahn, der gefährliche Puter und der beißende Ganter. Da waren Schweine und Ferkel, Kühe und Kälber, der Zuchtbulle, um den man am besten einen großen Bogen machte. Vor allem gehörten die Pferde dazu: Die edlen Kutschpferde, die Arbeitsgespanne, die beiden rheinisch-belgischen Hengste und kleinen Fohlen, besonders geliebt. Und geliebt, besungen, im Frühjahr sehnlich erwartet, im Herbst wehmütig verabschiedet, das waren die Störche auf dem Kuhstalldach.

Schier unbegrenzt war unsere Bewegungsfreiheit, waren die Spielmöglichkeiten im Haus und Hof, am Kanal, im Garten und Feld zu jeder Jahreszeit. Ein rechter Wildfang war ich damals, überall dabei und stellte manches an. Da begoss ich die Blümchen mit dem teuren Hustensaft für das Schwesterchen im Kinderwagen und vermengte bei der Weih-nachtsbäckerei alle Gewürze auf einem Polsterstuhl. Anfangs war ich meistens allein unterwegs, wurde auf Pferde gesetzt, in den Weidegarten, zur Tränke und in Nagels Schmiede mitgenommen, wenn ein Pferd beschlagen wurde. Auch beim Melken war ich gern dabei. Im Sommer fuhr Male mich im Sportwagen durch die Felder, zur Sandkaule, zum Wäldchen, sogar zu Pikarts auf dem früheren Vorwerk. Mit Kornblumenkränzen im Haar und um den Wagen kehrten wir fröhlich von solchen Ausflügen zurück. Später kam dann meine kleine Schwester als Spielgefährtin dazu, wenn auch längst nicht so unternehmungslustig.

Eine besondere Anziehungskraft übte der Kanal auf uns aus, der am unteren Ende des Gartens vorbeifloss. Eine abgeschlossene Lattentür führte zu dem breiten Steg zum Wäschespülen. Als sie kein Hindernis mehr darstellte, weil wir drüber kletterten, blieb sie offen. Schlimm nur, wenn jemand beim Spielen ins Wasser fiel, und das geschah nicht nur einmal! Bei nassen Kleidern gab’s Haue! Hinter der hohen Tannenhecke war das Ufer flach, und in Badehöschen spielten wir im Sommer dort oft mit den anderen Kindern.

Tote Vögel oder Küken beerdigten wir mit großer Feierlichkeit. Mit umgehängtem schwarzem Tuch als Talar hielt der „Pfarrer“ eine Trauerrede. Einige unserer Spielgefährten bildeten die Trauergemeinde, und alle sangen andächtig und ergriffen „ Nun danket alle Gott“ oder „Lobe den Herren“. Auf der sehr wilden Rück-fahrt mit dem „Leichenwagen“ von solch einem Begräbnis, wäre Vaters heimlich mitgenommener Zylinder fast in den Kanal gerollt. Darum verzichteten wir ein anderes Mal vorsichtshalber auf ihn. „Wildfang mit dem goldenen Herzen“ wurde ich von den Eltern genannt.

Eine besondere Erinnerung habe ich an eine richtige Hochzeitsfeier. Ein junger Mann von unseren Leuten heiratete, und auf der Rückfahrt von der Kirche mit unserer blaugepolsterten Kutsche nahm mich das Brautpaar zur Feier mit. Zum Kaffee gab es dort köstlichen Streuselkuchen − der viel besser schmeckte als zu Hause! – und hinterher bekam ich auch selbstgebrautes Braunbier zu trinken, zum einzigen Male in meinem Leben! Meine Schwester hatte damals Gelbsucht und war so traurig, weil sie nicht hatte mitkommen können.

Zur Grundsteinlegung des Tannenbergdenkmals, 1924, fuhr meine Mutter, als gebürtige Hohensteinerin, auch hin und hatte mich mitgenommen. Aufregend war schon die Reise mit dem Zug, dann die Veranstaltung mit den vielen Menschen. Unvergesslicher Höhepunkt aber blieb der Augenblick, als meine Mutter mit mir auf dem Arm durch die Absperrung zum Wagen Hindenburgs und Ludendorffs gelangte, ich laut mein „Hurra“ rief und Hindenburg nickend lächelte und mir die Hand gab.

Irgendwann in den zwanziger Jahren bekamen wir Telefon, mit dem Kasten und dem Trichter zum Sprechen an der Wand und dem Hörer an der Schnur. Das war ein Ereignis! Gleich am nächsten Tage, als wir allein im Zimmer waren, kam uns der glorreiche Gedanke, dieses Ding einmal auszuprobieren. Auf dem Schreibtischsessel und einem Stuhl stehend ging’s los. Meine Schwester kurbelte, ich hielt den Hörer ans Ohr. Es meldete sich Fräulein Kuck vom Amt, ob und was ich vor Aufregung sagte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls gefiel uns dieses Spielchen mit Kurbeln, Hören und Sprechen so, dass wir es abwechselnd wiederholten. Schließlich meinte Fräulein Kuck, es sei nun genug, und wir sollten nicht mehr klingeln. Aber es nützte nichts! „Dreh‘ besser“, ermunterte ich meine Schwester, „dreh´ besser!“ Das hörte meine Mutter, die gerade ins Zimmer kam, und machte dem Spiel ein Ende.

Zu Ostern bauten wir auf der Terrasse und im Garten Mooshäuschen und Nester für die Eier des Osterhasen, die oft genug vorher zuschneiten. Einmal hatten wir am ersten Ostertag neue Kleider an. Aber wer hatte nur den Einfall, auf das schräge Holzdach des Kellereingangs am Torfschuppen zu klettern? Beim Runterrutschen auf dem Bauch blieb der feuchte, grüne Belag am Kleid hängen. Erbarmung! Das würde Haue geben! Was nun? Bloß schnell zur Pumpe und kräftig gewaschen, bis meine Mutter die Aktion recht schmerzlich für uns beendete.

Jahrelang gehörte das Bauen von Buden zu unseren schönsten Spielen. Dazu bot sich auf der Terrasse eine Ecke mit zwei Gitterwänden an oder auf der Hofseite der Zaun des Vorgartens bei rechtwinklig geöffneter Tür. Mit Stangen, Brettern und Schnur vervollständigten wir das Gerüst und behängten die vier Seitenwände mit Decken. Das rosarote Badelaken als Dach darüber gab dem Innenraum ein besonders schönes Licht. Wir hatten zu mehreren darin Platz und konnten so herrlich mit unseren Puppen „Mutter und Kind“ oder „Puppendoktor“ oder „Schule“ spielen. Am häufigsten war Betty bei unseren Spielen dabei. Sie war so alt wie meine Schwester und wir vertrugen uns gut. Manchmal gingen wir mit ihr nach Hause, bestaunten ein kleines Geschwisterchen in der Wiege und aßen mit Wonne ein Butterbrot mit Zucker, das uns ihre Mutter oder Oma Kostka machten.

Wenn in den Familien unserer Leute jemand krank oder ein Kind geboren war, durften wir oft unsere Mutter begleiten, die eingewecktes Obst oder Saft hinbrachte und sich um die Leute kümmerte.

In einer besonders schönen Jahreszeit lag der Geburtstag meiner Mutter, am 16. Juni. Der Roggen begann zu blühen, die Kornblumen und manchmal auch die große Linde vor den Herrenzimmerfenstern. Ihre weitausladenden Äste reichten bis zur Erde und bildeten eine geräumige Laube, in der Kaffee getrunken wurde. Wenn die ersten Erdbeeren reif waren, gab es für die Gäste Erdbeerbowle, manchmal zum Abendessen Krebse aus Schlagamühle. An einem Geburtstag fuhren wir mal mit einem Kutscher nach Arys, um aus dem Königlichen Hof eine Eisbombe zu holen.

Da bin ich nun bei den Erlebnissen mit Pferden angelangt, deren es viele und so manche aufregende gegeben hat. In Arys waren „Danielziks mit den verrückten Pferden“ nicht unbekannt! Und Bienkos, unsere Verwandten, und Damen aus dem Bekanntenkreis bewunderten meine Mutter, die nie Angst hatte mitzufahren. Vater fuhr gern und oft selbst und meisterte ruhig und gekonnt jede Situation. „Trude“, sein Reitpferd aus dem Kriege, lammfromm, aber nicht zugfest, konnte nur er fahren.

Nach einem Turnier auf der Halbinsel Amerika, die Pferde hatten stundenlang gestanden und waren unruhig geworden, drückte auf der kleinen Kanalbrücke eins das andere so gegen das Geländer, dass es brach und beide Pferde ins Wasser stürzten. Der Wagen hing an einem Pfosten, und glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen. Die Pferde wurden aus dem nicht sehr tiefen Wasser geholt, oben wieder an den zurückgezogenen Wagen gespannt, und ohne weitere Zwischenfälle kamen wir nach Hause. Die morsche Kanalbrücke wurde danach erneuert.

Ohne Schaden verlief auch eine andere Fahrt. Mit einem Zweirad fuhren wir heimwärts, als unsere Stute vor einem plötzlich entgegen kommenden Auto scheute und den Wagen schräg rückwärts den Abhang hinab drückte. Wir wären unweigerlich umgekippt, aber es gelang Vater, das Pferd so zu lenken, dass wir rechtwinklig zur Straße unten auf der Wiese anlangten. An den Umgang mit Pferden waren wir von klein auf gewöhnt und lernten schon früh zu reiten und zu kutschieren.

Mit etwa sieben und fünf Jahren kamen wir einmal alleine mit dem Zug von einer Reise nach Johannisburg zurück, vollgestopft mit Erlebnissen und brannten darauf, schnell nach Hause zu kommen. Mit einem Einspänner holte uns Gustav von der Bahn ab, aber als uns seine Erledigung beim Klempner Slomma, trotz zweier „Warnungen“ zu lange dauerte, fuhren wir alleine los. Freudestrahlend gelangten wir zu Hause an! Doch noch vor der Auffahrt zum Haus kam uns unser Vater entgegen. Er erfuhr, warum Gustav nicht mit war und dämpfte unsere Wiedersehensfreude empfindlich.

Unvergesslich schön waren unsere Spazierfahrten am Sonntag! Gleich nach dem frühen Mittag, an heißen Tagen schon frühmorgens, ging es los. Im Frühling war das Ziel oft der Wald am Lasdunsee. Da leuchteten die Hänge blau von Leberblümchen, und gelb von Himmelsschlüsselchen. Wir pflückten dicke Sträuße. Auch samtige Küchenschellen wuchsen dort, später im Jahr auch Katzenpfötchen. Und Walderdbeeren gab es in Hülle und Fülle.

Einmal lagerten Zigeuner um ein Feuer am See, dicht an unserem Weg. Als die Pferde scheuten und nicht weiter wollten, fasste ein junger Zigeuner sie am Zügel und führte sie vorbei. Aber sonst waren uns die Zigeuner fremd und unheimlich, wir hatten Angst und liefen ins Haus, wenn sie auf den Hof kamen.

Manchmal trafen wir uns mit Bienkos oder Kastners aus Arys im Wald, hatten Kaffee und Kuchen mit, und es wurde erzählt und gelacht. Nur wenn es an’s Pilzesammeln ging, waren wir nicht begeistert. Vater tat es mit Ausdauer, aber wir waren wohl noch zu klein dazu. Welche Freude jedoch, wenn wir an schießfreien Tagen auf den Truppenübungsplatz fuhren! Die vielen Attrappen, der große Bovist, Beobachtungstürme und vor allem die Kirche von Rehfeld hatten es uns angetan. In ihrem Turm konnten wir hochklettern und hatten von oben eine herrliche Aussicht.

Wenn Vater in Eckersberg zu tun hatte, fuhren wir immer zum Fischer an den Spirdingsee und kauften frisch aus dem Kasten, was an Fischen gerade da war: Hechte, Barsche oder Schleie. Vom „Schachtelkaufmann“ an der Brücke holten wir die schönsten Schachteln zum Spielen. Die Fische wurden zu Hause geschlachtet, in der Vorküche oder draußen geschuppt und auf verschiedene Weise zubereitet. Der Nachtwächter Trojan in Mykossen brachte gelegentlich Aale aus dem Kanal, die bei uns gebraten oder in Gelee besonders begehrt waren.

Im Winter unternahmen wir viele schöne Schlittenfahrten. Warm angezogen und in die Pelzdecke gemummelt ging es mit Schellengeläut hinaus. Im Wald wurden die Schellen abgenommen, und wir glitten lautlos durch die weiße Pracht. An den Seiten schneebeladene Tannen, kleine Kiefern mit dicken Schneemützchen, ab und zu ein Prusten der Pferde, ein Vogelruf, ein aufgeschrecktes Reh, das über den Weg wechselte, im Dämmerlicht erste Sterne oder die schmale Mondsichel. Wie im Märchen! Doch gab es auch Fahrten bei dichtem Flockenfall oder Schneetreiben oder ein Umkippen auf zugeschneitem Weg.

Wenn es genug gefroren hatte, gehörte es zu unseren größten Winterfreuden, auf den überschwemmten Weidegärten oder den schilffreien Stellen des kleinen Scheimosees Schlittschuh zu laufen, beseligt über das blanke Eis zu fliegen. Keine Kälte und keine Stürze konnten dieses Glück schmälern.

Schon Ende Oktober begann für uns die weihnachtliche Vorfreude, wenn Oma den Pfefferkuchen anrührte, der mehrere Wochen zugedeckt ruhen musste. Später folgte das Schweine- und Gänseschlachten, dann gab es Wurstsuppe und Schwarzsauer mit Wickelpfötchen.

Mürbchen, Zimtsterne und kleine Pfefferkuchen wurden schon zum Advent gebacken. Da durften wir beim Ausstechen helfen, Mandeln auf die Herzen, Sterne und Weihnachtsmänner legen, mal eine bisschen naschen oder eine Schüssel auslecken. Stritzel, der dicke Pfefferkuchen und die anderen Kuchen kamen später an die Reihe, zum Schluss die vielen süßen Sachen und das köstliche Marzipan. Dabei mitzuhelfen galt als besondere Auszeichnung.

In den Schummerstunden der Adventszeit, wenn in der Röhre die Bratäpfel prutzelten. Saßen wir oft im Wohnzimmer am Ofen bei unserer Oma auf den Armlehnen des mächtigen Sessels oder auf einem Fußbänkchen und wurden nicht müde, ihren Geschichten und Märchen zu lauschen. Im Esszimmer hing um die große Petroleumhängelampe aus Messing statt des Schirmes nun der selbstgebundene Adventskranz aus Kiefernzweigen mit den dicken roten Kerzen. Vor jedem Adventssonntag stellten wir für den Knecht Ruprecht unsere Schuhe auf den Fensterkopf im Kinderzimmer. Doch steckte am Morgen auch mal eine Rute und ein Stück Torf drin. Ich weiß auch noch, wie schmerzlich enttäuscht ich war, als ich eines Nachts bemerkte, dass meine Mutter und nicht der Knecht Ruprecht die Schuhe füllte.

Auf einer Weihnachtsfeier im 1. oder 2. Schuljahr in Mykossen (später besuchten wir die Grundschule in Arys) spielten Hertha Groß und ich die beiden Engel aus dem Lied „Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen“. Was gab das für eine Aufregung. Schon beim Üben und erst recht vor dem Auftritt im sternenbeklebten langen weißen Nacht-hemd mit Flügeln! Zu Hause bekam auch meine Schwester ein Engelsgewand und Flügel. Dann spielten und sangen wir in der Küche „Vom Himmel hoch da komm ich her“ und fühlten uns als richtige Engel, wenn wir vom Tisch über Schemel und Fußbank zur Erde schwebten. Verkleiden und Theaterspielen oder Besuch von Aufführungen hatten durch viele Jahre für uns eine große Bedeutung und beschäftigten uns sehr.

Je näher das Weihnachtsfest kam, desto mehr wuchs unsere erwartungsvolle Unruhe. Im Haus duftete es weihnachtlich, und eines Tages wurde der Tannenbaum gebracht. Am Heiligen Abend waren die Türen zum Damenzimmer abgeschlossen, und kein Blick durchs Schlüsselloch ließ etwas von dem erspähen, was drinnen vor sich ging.

Am Nachmittag, wenn in den Stallungen früher als sonst alles beschickt war, gab es im großen Esszimmer für die Leute die Bescherung mit bunten Tellern und Geschenken. Danach begann für uns eine schier nicht endenwollende Wartezeit im Wohnzimmer. Zum Spielen waren wir nicht mehr aufgelegt, und selbst Omas Märchen hörten wir nur mit halbem Ohr. Endlich das erlösende Klingeln! Wir stürmten durchs Esszimmer zur weitgeöffneten Flügeltür zum Damenzimmer: Da stand der Weihnachtsbaum mit vielen brennenden Kerzen, bunten Kugeln, Sternen und glitzerndem Lametta, darunter die Krippe, daneben der Gabentisch. Oh, wie gern hätten wir gleich gesehen, was der Weihnachtsmann uns gebracht hatte! Doch zuerst setzte Mutter sich an den Flügel und spielte ein bis zwei Weih-nachtslieder, die wir alle mitsangen. Nun mussten wir unsere Gedichte aufsagen, und dann – endlich – die Bescherung! Freude über die neuen Kleider der Puppen, manch heißersehntes Geschenk, Jubel über Unerwartetes! Mal waren es Klotzkorken zum Schorren auf dem Eis, wie die anderen Kinder sie hatten, mal unser wunderschönes Schaukelpferd, Schlittschuhe, ein Spiel oder ein schönes Buch. Und dann der bunte Teller, von dem gleich etwas genascht wurde. Wenn die Kerzen heruntergebrannt waren, geb es Abendbrot: Kartoffelsalat und Würstchen oder Karpfen in Braunbier Soße. Aber unser Appetit war nicht sehr groß. Zu sehr beschäftigten uns an diesem Abend der Weihnachtsbaum, der Bunte Teller und unsere Geschenke.

Zwischen Weihnachten und Neujahr stand uns immer noch etwas Aufregendes bevor: Der Besuch der Schimmelreiters mit seinem vermummten Gefolge, dem Bären, dem Storch und dem Pracherweib, mit Brummtopf und Teufelsgeige. Zum Fürchten sahen sie aus, und so führten sie sich auch auf und ängstigten uns sehr.

Im Sommer 1930, als ich 10 Jahre alt war, fand dieser Lebensabschnitt ein Ende. Vieles habe ich von dieser Zeit erzählt, und doch ist es nur ein kleiner Teil alles Erlebten in dieser behüteten, fast unbeschwerten Kindheit und ist ein später Dank an alle, die zu ihr gehörten. Eva Leonore Danielzik


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