26.04.2024

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02.02.13 / Löcher im Immunschirm

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-13 vom 02. Februar 2013

Moment mal!
Löcher im Immunschirm
von Klaus Rainer Röhl

Das ganze Land ist in Alarmstimmung. Wir müssen gesünder leben, gesünder essen, weniger essen, nur naturbelassene Lebensmittel essen. Am besten gar nichts essen (Heilfasten). Durch die Supermarkt-Lautsprecher hallen die Durchsagen, die uns mitteilen, dass diese Eier nur aus ökologischer Bodenhaltung stammen. Die Hähnchen natürlich auch. Mit solchen Albernheiten wie „Milch von glücklichen Kühen“ hält sich niemand mehr auf, dazu ist die Lage zu ernst, und die in Jahren grüner Mitregierung seit 1998 gezüchtete Angst, etwas Falsches zu kaufen oder zu verkaufen, viel zu groß. Fangen wir gleich an mit dem grünen Tee. Verhindert angeblich Krebs. Der Umsatz steigt. Außerdem gehört er zu den fair bezahlten indischen Produkten. Also nicht mehr glückliche Kühe, sondern glückliche Inder. Und Indios. Denn der Kaffee stammt auch von fair bezahlten Produzenten, Schokolade und Kakao längst. Na also, geht doch. Längst beschränkt sich die Aufklärung nicht auf die linken Blättchen und die professionell aufgeregten, immer wie kurz vor dem Weltuntergang Alarm schlagenden Magazinsendungen. Skandal im Hühnerstall. Neue Tiermisshandlungen! Auch in der Bodenhaltung nicht genug Platz zum Scharren, das bedeutet „Stress“ für unsere kaum noch gefiederten Freunde. Längst hat sich die Müslifraktion von den Sitzbänken der strickenden grünen AbgeordnetInnen aus über das ganze Land verbreitet. Da will keiner mehr zurückstehen, auch Aldi, Lidl und Penny nicht. Längst ist die Angst mit im Billigangebot. „Bild“ brachte letzte Woche gleich auf zwei Seiten alles über die 100 gesündesten Nahrungsmittel. Fürs Herz. Gegen Krebs. Fürs Immunsystem.

Eigentlich kann man da nichts mehr falsch machen. Was aber, wenn die noch so glücklichen Hähnchen ja eines Tages geschlachtet werden? Der letzte Schrei aus tiefer Not ist deshalb – „Keine Tiere essen!“

Essen Sie noch „Tiere“? Dann haben Sie den „Spiegel“, den „Stern“, das Fernsehen, das Internet zur Grünen Woche in Berlin nicht wahrgenommen. Zur Eröffnung der Messe durch Ministerin Ilse Aigner (CSU) stürmten Tierschutz-Aktivisten mit Bildern von „Haftbedingungen in den Tierfabriken“ und skandierten: „Wir haben Ilse Aigner satt!“ Die Betonung liegt auf dem Wort „satt“. Die Tierschützer sind – im Gegensatz zu einem Drittel der Erdbevölkerung – satt. Sie haben schon gegessen, wenn sie nun, wie der NRW-Umweltminister Remmel, die kleinen Leute ermahnen, höchstens zweimal in der Woche Tiere, aber dann nur „gutes“ Fleisch zu essen, von dem man genau weiß, wo es herkommt. Woher? Sie haben es erraten! Vom Biobauern. Die heutigen „Bionahrungsmittel“, in großen Mengen in ganz Deutschland konsumiert, stammen häufig aus dem Ausland, beispielsweise aus Spanien, Italien oder aus Nordafrika und werden dort kaum und vom Zwischenhandel nur lasch kontrolliert. Die jeweils aufgedruckten Garantie-Sprüche („Tee aus biodynamischem Anbau“ etc.) sind ebenso wenig einklagbar wie das „strahlendste Weiß meines Lebens“. Alles in Butter. Diätmargarine mit garantiertem Cholesterinsenker. Aber nun kommt das Problem.

Rund eineinhalb Milliarden Chinesen, von der Ming-Dynastie bis Mao hauptsächlich von Reis und Gemüse lebend, freuen sich gar nicht mehr über die Frohkost, sondern wollen auch an die Fleischtöpfe. Die anderen Völker werden folgen, während die Vegetarier Tofu-Ente (die gibt es!) essen und die Frutarier Äpfel aufsammeln. Und jede Menge Vitamine und Nahrungsergänzungspillen in der Apotheke kaufen, ohne die sie gar nicht lange überleben könnten.

Wenn es nach dem außerordentlich gestiegenen Konsum an Vollwertkost sowie Bionahrung und Bioheilmitteln (wie Echinazin und dem scheußlich stinkenden Combyzym) ginge und die angepriesenen „Überlebensmittel“ eine so positive Wirkung hätten, müsste eine statistisch spürbare Verbesserung der Volksgesundheit die Folge sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil, der Anteil psychisch Kranker oder sich krank Fühlender hat erheblich zugenommen. Neue Krankheitsbilder schießen wie Pilze aus dem Boden. Befindlichkeiten! Alltagsprobleme werden zu seelischen Störungen ernannt und müssen behandelt werden. Millionen Menschen werden so über Nacht zu Krankheitsfällen. Eine Entwicklung, wie sie ähnlich bei den Geistheilern und Psychotherapie-Gruppen zu verzeichnen ist. Ihre Zahl hat sich verhundertfacht.

Tiere nicht essen? Denn es sind ja tote Tiere, also eigentlich Leichen, die man da isst! Woran erinnert mich das? An 1943. Die Nationalsozialisten hatten auch eine Müsli-Fraktion, und waren in manchem die Vorläufer der Grünen und Alternativen. Und der oberste Führer war bekanntlich ihr Vorbild. Der Führer war Abstinenzler und Vegetarier. Und es gab Gurus wie heute. Wanderprediger zogen übers Land und hielten Vorträge an den Schulen. Die fanden 1943 während der Unterrichtszeit in der Aula unserer Oberschule in Danzig-Langfuhr statt. Da belehrte uns der vom Kriegsdienst freigestellte Aufklärer: „Ein Ei ist ja praktisch ein totes Küken. Wenn Sie ein Ei kochen, haben sie in Wirklichkeit den Tod im Topf!“ Das war besonders grotesk, weil es damals kaum mal ein Ei zu kaufen gab. Ein Ei zum Frühstück, welche Ausnahme! Das sollte nun der Tod im Topf sein. War es ein besonderer Zynismus von Goebbels, uns auch diese letzte Freude zu vermiesen? Möglich, denn er förderte auch eine Vortragsreihe über das Fletschern, das auch heute noch gelegentlich von unerbittlichen Gesundheits-Fanatikern empfohlen wird. Fletschern hieß: jeden Bissen 25-mal kauen. Nur dann würde die Nahrung erst richtig verdaut. Die Methode stammt von dem amerikanischen Ernährungswissenschaftler Horace Fletscher, der 1910 die Kaumethode am eigenen Gaumen ausprobierte und später Millionen mit Vorträgen verdiente. Auch er predigte den Verzicht auf Fleisch.

Den Endsieg für Goebbels hat auch das Fletschern nicht gebracht. Aber es stellt sich die Frage: Wie hat das deutsche Volk sechs Jahre Krieg ohne grünen Tee überstanden? Die meisten unserer eingebildeten Krankheiten gab es in Stalingrad nicht. Aber Hunger, schwere Verwundungen, Erfrierungen und Tote. Am Ende der Marsch in die Gefangenschaft. Von den 107800 Soldaten der 6. Armee, die heute vor 70 Jahren in russische Gefangenschaft gerieten, blieben knapp 6000 übrig. Die anderen hatten keine Befindlichkeitsstörungen und keine Löcher im Immun-Schirm und keine Macke an der Backe. Sie sind verhungert oder erfroren, wurden erschossen oder erschlagen. Die Überlebenden des Krieges bauten aus Trümmern das Wirtschaftswunder auf – übrigens unter starker Beteiligung der Vertriebenen. Die Generation der Hypochonder wurde erst geboren, als alles fertig war.

Heute gibt es seit vielen Jahren Hilfe für die neu geschaffenen Krankheiten: Selbsterfahrungskurse, Tantra, Reiki, Tai Chi, Re-Birthing, Bachblütenkur und pränatale Fußreflexzonenmassage für ungeborene Kinder, Stresstraining für Kleinkinder und „Kitas“ für Hunde. Eine ganze Helfer- und Heiler-Industrie ist aus dem Boden geschossen und voll beschäftigt. Jedes zweite oder dritte Kind in den Kitas hat eine Betreuerin. Doch die vielen Betreuerinnen müssen allmählich selber psychisch betreut werden. Der Bedarf an Betreuern wächst geometrisch. Frage: Geht es den Fleischverweigerern, den Tofu- und Grünkernessern und ihren Kindern nun wirklich besser? Ich weiß nicht recht.


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