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09.02.13 / Ideologie auf Kosten der Kleinen / »Inklusion«: Berlin schließt lernbehinderten Kindern die Förderschulen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-13 vom 09. Februar 2013

Ideologie auf Kosten der Kleinen
»Inklusion«: Berlin schließt lernbehinderten Kindern die Förderschulen

Berlins SPD-CDU-Senat bereitet eine Schulreform vor: Die Inklusion, der „Einschluss“ lernbehinderter und entwicklungsauffälliger Kinder in Regelschulen, steht im Mittelpunkt. Doch dem Bildungswesen der Stadt fehlt es schon jetzt allgemein an Geld und Lehrkräften.

Noch diesen Monat will Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die neuen Pläne näher vorstellen. Kritiker fürchten, mit der Abschaffung von Sonderschulen und ein paar Prozent mehr Lehrerplanstellen an Regelschulen sei das Projekt kaum ein Gewinn für die betroffenen Schüler.

2014 und 2015 soll die Inklusion umgesetzt werden. Doch schon jetzt üben Berlins Bezirke laut Verband Bildung und Erziehung (VBE) Druck aus: „Es werden Förderzentren verkleinert, Beförderungskosten restriktiv und zögerlich bewilligt und es wird darauf gedrungen, diese Kinder in der Schulanfangsphase in die Regelschule einzuschulen.“

Inklusion gilt europaweit als positiver Leitbegriff zeitgemäßen Umgangs mit Behinderten. Diese sollten selbst entscheiden, nicht mehr in Sondereinrichtungen abgeschoben zu werden, so der Gedanke, dem sich Deutschland spätestens mit seiner Unterschrift unter die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 angeschlossen hat. Bereits 50 Prozent der Kinder mit entsprechendem Bedarf sind in Berlin auf Regelschulen verwiesen worden. Rund 9500 gelten somit als inkludiert. Berlins Senat verbucht das als Erfolg, das Land gilt bundesweit als Inklusionsspitzenreiter. Schüler mit Problemen bei „Lernen, emotionaler und sozialer Ent­wicklung, Sprache“, kurz LES, machen den Hauptanteil der nun Umgeschulten aus.

Für Berlin und seinen angeschlagenen Haushalt bringe diese Art Inklusion nicht neue Gleichheit und neue Wahlmöglichkeiten, sondern die Schließung bisheriger Einrichtungen und Fördermaßnahmen ohne entsprechenden Ersatz, fürchten indes Experten mit Erfahrung in der Arbeit mit Lernbehinderten. Der Sozialverband VBE warnt zudem auch davor, dass bisherige Prinzipien wie das Elternwahlrecht auf der Strecke blieben. Kinder mit LES würden schon jetzt „leider kaum entsprechend gefördert, denn in der Schulanfangsphase stehen pro Klasse flächendeckend nur vier (!) Förderstunden pro Woche zur Verfügung“.

Entscheiden wird sich die Reform an der Kostenfrage, über sie wird derzeit am meisten gestritten. „Eine kostenneutrale Realisierung des Konzeptes ist nicht verantwortbar“, mahnt der VBE. Ausdrück­lich warnt der Verband: „Bei aller Ausstattung muss berücksichtigt werden, dass die Rechte der Schüler ohne Förderbedarf nicht eingeschränkt werden dürfen.“ Die Pläne des Senats seien „unausgegoren“ und „unterfinanziert“.

Zu den Kritikern der Inklusion gehören zunehmend auch Eltern. An einer Kreuzberger Schule schrieben sie bereits einen offenen Brief, der fehlende Erzieher und den Ausfall „zäh erkämpfter Förderstunden“ für Kinder mit entsprechendem Bedarf anprangert.

Die politisch von einer breiten Parteienmehrheit getragene Inklusion droht so ausgerechnet in der Hauptstadt als vor allem ideologisch motivierter Großversuch zu scheitern. Erst würden Fördereinrichtungen mit Verweis auf Inklusion geschlossen, dann die individuelle Förderung an Regelschulen zusammengespart. Ein für die Inklusion geschaffener 20-köpfiger Beirat habe zudem bei seinen Empfehlungen vorrangig Spareffekte statt Kindeswohl vor Augen gehabt, kritisiert der VBE.

Dabei bereitet sich Berlin schon eine Weile auf das Projekt vor: „Seit September 2011 hatten über 30 Verbands- und Gremienvertretungen in sechs Sitzungen die Gelegenheit, mit den Fachkräften der Senatsbildungsverwaltung zu diskutieren und zu den relevanten Aspekten des Gesamtkonzepts ,Inklusive Schule in Berlin‘ Stellung zu nehmen“, verteidigt sich das Haus von Bildungssenatorin Scheeres in einer Stellungnahme zur Berufung von Sybille Volkholz als Vorsitzende des Inklusionsbeirats. Volkholz verteidigt nun die Inklusionspläne. Eltern sollten demnach gerade nicht mehr Bittsteller sein.

Berlins Wirklichkeit bleibt jedoch geprägt von großen Klassen, frustrieten Lehrern, die diesem Schulsystem wegen schlechter Bezahlung, fehlender Verbeamtung sowie grassierender Gewalt zu entfliehen versuchen. Offiziell 1836 Gewaltvorfälle und Notfälle wurden im Schuljahr 2011/12 an Berlins Schulen gemeldet. „Das sind rund 25 Prozent mehr als im Vorjahr“, so der Gewaltpräventionsbericht der Berliner Schulverwaltung. Vor allem Beleidigungen, Drohungen und Tätlichkeiten sind demnach „deutlich gestiegen“. Dass Lern- und sonstige Behinderte in diesem Umfeld besser und selbstbestimmter als an ihren bisherigen Schulen lernen, überzeugt kaum.

Neueste demografische Entwick­lungen mit mehr Kindern lassen einen allgemeinen Schulkapazitätsmangel an der Spree erkennen – kein guter Zeitpunkt für Schulschließungen. Die auch bundesweit bemerkte starke Zunahme von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen beantwortet Berlin mangels Mitteln nur mit ein paar mehr Planstellen. Schon mit dem reformerischen Schnellschuss des Jahrgangsübergreifenden Lernens verbrannte sich Berlin die Finger: Diese Pflicht für Grundschulen musste wieder aufgehoben werden. Ebenso steht das Senatsvorhaben „Einschulung mit fünf Jahren“ mangels Machbarkeit auf der Kippe. Sverre Gutschmidt


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