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16.02.13 / In Versen gefangen / Die Nachbarin liebte romantische Verse

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-13 vom 16. Februar 2013

In Versen gefangen
Die Nachbarin liebte romantische Verse

Marisa wollte Kuchen backen, damit die große Familie mal wieder vereint um ihren runden Tisch saß, und so stellte sie alle Zutaten für das Backwerk zunächst auf ihre Arbeitsplatte. Beim letzten Teil erschrak sie. Die Hauptsache von allem, die gemahlenen Nüsse, hatte sie vergessen zu kaufen.

Nach kurzem Schrecken schnappte sie sich ihren Beutel, schwang sich auf ihr altes Fahrrad und strampelte in Richtung Einkaufsmeile. Da sie für ihren Mann noch das Mittagessen kochen musste, lief ihr die Zeit davon.

Sie stellte das Rad gegen eine Hauswand und erstarrte. Vor ihr stand ihre betagte Nachbarin Frau Körner und strahlte über das ganze Gesicht.

„Hallo, liebe Marisa!“, erschallte ihre zitterige, aber noch recht kräftige Stimme: „Wie schön, dass ich Sie mal wieder treffe! Wie geht es denn so?“ Marisa wurde rot vor lauter Unwillen. Der Nachbarin entging niemand so leicht! Sie fing auch gleich an zu reden. Dabei hielt sie die junge Frau am Ärmel fest, damit sie ihr auch ja nicht entwischen konnte.

Durch die Rede über ihre Lieblingsbücher kam sie auf die deutschen Dichter zu sprechen. Die junge Frau holte tief Atem. Sie wollte die nette alte Frau nicht mit ihrem Desinteresse beleidigen. „Ein paar Minütchen noch“, dachte sie, „dann muss ich sie stoppen.“

Frau Körner zitierte gerade ein Gedicht von ihrem Lieblingsdichter Rilke, den sie so sehr liebte: „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß …“ Marisa hörte plötzlich interessiert zu, denn auch sie liebte die herrlichen Gedichte Rilkes, und so ließ sie die alte Frau das Gedicht bis zu Ende aufsagen. „Ihr Gedächtnis ist aber noch recht gut“, staunte sie. Die Augen der alten Dame leuchteten. „Oh ja“, erwiderte sie fröhlich, „ich liebe Gedichte, zum Beispiel auch den romantischen Eichendorff! Hören Sie bloß: ,Es war, als ob der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nur träumen müsst’.“

„Herrlich“, meinte Marisa, die längst nicht mehr an ihren wichtigen Einkauf dachte, „auch ich liebe …“ Frau Körner fiel ihr ins Wort: „Und hören Sie noch eben das unnachahmliche Gedicht von Goethe an: ,Füllest wieder Busch und Tal mit stillem Nebelglanz, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz’.“

Sie zitierte alle Strophen bis zum Schluss. Marisa sah, dass ihr Geist längst in anderen, viel schöneren Regionen weilte. Sie deklamierte und betonte; ihre Stimme sang wie ein glück-licher Vogel im Frühling. Kein Zittern mehr in ihr. „Kennen Sie den wunderbaren Nikolaus Lenau, liebe Marisa?“ ,Diese Rose pflück’ ich hier in der fremden Ferne …“, „und eines der Gedichte von Eduard Mörike geht so: ,im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen …’.“

Marisa war längst in der Welt der Frau Körner gefangen. Diese hörte plötzlich von selbst auf, Gedichte aufzusagen. Sie nahm beide Hände der jungen Frau und drückte sie heftig.

„Vielen Dank auch, Marisa, Sie haben mir eine große Freude gemacht!“ „Wieso ich?“ Sanft strich Marisa der alten Dame über die faltigen, jetzt roten Wangen. „Sie haben mich doch erfreut! Und darum schließe ich nun mit Nikolaus Lenau: ,Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit’.“ „Aber nun muss ich zu meinem Kuchen zurück. Wenn er fertig ist, lade ich Sie zum Kaffee ein, und dann sprechen wir weiter über Rilke und die Dichter der Romantik. Recht so?“ Die alte Dame nickte. Ihre Augen glänzten.Gabriele Lins


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