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16.03.13 / Was wäre, wenn? / Roman zeigt Varianten auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-13 vom 16. März 2013

Was wäre, wenn?
Roman zeigt Varianten auf

Immer ausgeprägter hat sich die Gattung Roman zu einem Experimentierfeld gewandelt. Dabei werden von den Autoren vor allem Elemente des Films und anderer Literaturgattungen aufgenommen. In ihrem neuen Roman „Aller Tage Abend“ hat die 1967 geborene Berliner Autorin Jenny Erpenbeck ein Experiment durchgeführt, das an die Fantasy-Spielbücher der 1980er Jahre erinnert. Nur wird in diesem Fall nicht der Leser ständig vor die Wahl gestellt zu entscheiden, wie die Handlung weitergehen soll, womit das Risiko auszuscheiden einhergeht, sondern die Autorin selbst bietet mehrere Möglichkeiten des Verlaufs an.

Mehrmals spielt sie in kritischen Situationen sowohl den Tod der Protagonistin als auch deren Überleben durch. Letzteres ist dann jeweils die gültige Version, schließlich kann der Roman auch nur so fortgesetzt werden.

In dem von den zwei Weltkriegen und sozialen Umbrüchen geprägten 20. Jahrhundert erreicht ihre Hauptfigur, die mütterlicherseits dem osteuropäischen Judentum entstammt, ein Alter von fast 90 Jahren. Dann ist „aller Tage Abend“. Während der ersten Hälfte ihres Lebens war sie unmittelbar von den mannigfaltigen Katastrophen dieses Jahrhunderts betroffen. Dabei fällt auf, dass ein Hinweis auf Übereinstimmungen mit der Biografie von Erpenbecks Großmutter Hedda Zinner (geboren 1905 in Lemberg, gestorben 1944 in Berlin) fehlen. Die Schriftstellerin, Schauspielerin und Kabarettistin war eine erfolgreiche Künstlerin in der DDR.

Erpenbecks Protagonistin, genannt H., erhält erst kurz vor ihrem Tod 1992 in einem Berliner Altenheim einen Namen: Frau Hoffmann. Im Namen könnte eine Anspielung enthalten sein, denn hoffen musste die Wiener Kommunistin viel aufgrund der Umstände. So entgeht sie, obwohl Mitglied der KPÖ, in ihrem sowjetischen Exil Ende 1938 nur knapp einer Verhaftung. In Verhören muss sie sich rechtfertigen, nachdem ihr Mann wegen angeblicher Spionage verhaftet worden ist. Sie wird nie etwas über sein Schicksal erfahren. Kurz darauf endeten die Verhaftungen in der stalinistischen Sowjetunion. Wäre H. auch verurteilt und nach Sibirien deportiert worden, hätte dies in der Hölle des strengen sibirischen Winters den sicheren Tod bedeutet. Die Situation wird zunächst geschildert, dann aber setzt die Handlung wiederum an dem Punkt an, wo die Entscheidung auf der Kippe steht. Und so legt der zögernde Parteigenosse die Akte H.s doch auf den rechten anstatt auf den linken Stapel, was ihre Rettung bedeutet.

Viermal folgt Erpenbeck diesem gewöhnungsbedürftigen Konzept. Eingeleitet wird die Kehrtwende vom „allwissenden Erzähler“, der betont, dass alles ganz anders hätte kommen können. Schnitt. Im nächsten Kapitel finden wir die Protagonistin zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort. Bis zu ihrer Übersiedlung von der Sowjetunion in die DDR nach Kriegsende 1945 gleicht ihr Leben einem erschöpfenden Kampf. „Es war so mühsam, all die Schlachten, in denen man nicht fallen würde, zu bestehen“, befindet die Autorin von ihrer verwinkelten Perspektive aus.

Reflexionen und Aktionen fließen in diesem Roman zusammen und münden in Rückblenden. Jenny Erpenbeck ist ein grandioser künstlerischer Entwurf einer Biografie des 20. Jahrhunderts gelungen. Von Humor findet sich allerdings keine Spur. Zwischendurch Passagen wie aus einer alten Chronik: Dieser Nüchternheit entspricht die genauestmögliche Angabe der Längen- und Breitengrade aller Handlungsorte auf dem geografischen Koordinatennetz. Lesenswert! Dagmar Jestrzemski

Jenny Erpenbeck: „Aller Tage Abend“, Knaus, München 2012, geb., 283 Seiten, 19,99 Euro


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