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30.03.13 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-13 vom 30. März 2013

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,

vor den Feiertagen gehen die Gedanken besonders intensiv in die Vergangenheit zurück, weil sie mit Kindheit und Familie verbunden sind und Eindrücke hinterlassen haben, die auch im späten Alter noch fühlbar sind. So ergeht es mir mit dem Palmsonntag, denn an einem solchen wurde ich eingesegnet. Ich sehe mich heute noch vor den Stufen der Altroßgärter Kirche in Königsberg im weißen Einsegnungskleid stehen, das Gesangbuch mit einem Sträußchen weißer Blumen in der Hand. Das hatte großes Aufsehen unter meinen Mitkonfirmandinnen erregt, denn es waren keine Maiglöckchen wie üblich, sondern die zarten Blüten einer Orchideenart, zu einem Sträußchen gebunden. Ein mit meinem Vater befreundeter Botaniker hatte es mir geschenkt, er wollte mir damit im aprilkalten Königsberg eine Freude machen, aber sie gelang nicht so ganz, weil ich auf keinen Fall damit angeben wollte. Bescheidenheit war angesagt, auch in meinem Konfirmationsspruch, den Pfarrer Penzki für mich ausgewählt hatte. Längst habe ich ihn vergessen, denn er war nicht sehr einprägsam, und meine Konfirmationsurkunde liegt irgendwo in den Trümmern von Königsberg begraben. Dafür habe ich eine ganze Sammlung von alten Konfirmationsscheinen, denn Frau Ursula Karge hatte zu einer Dokumentation dieser Urkunden aufgerufen und mir nun eine Kopie des schon in Folge 7 erwähnten Albums zur vorläufigen Verfügung überlassen. Sie hat sich sehr intensiv mit diesen Urkunden beschäftigt und festgestellt, dass diese Dokumente etwa ab dem Jahr 1820 ausgestellt wurden. Unter verschiedenen Bezeichnungen, man nannte sie Confirmationsschein, Attest, Testat, Druckspruch, Bekenntnis, Zeugnis, Erinnerungen, Bescheinigungen. Ich glaubte, dass Frau Karge damit ihre Dokumentation beendet hätte, aber das ist zum Glück nicht der Fall: Sie sammelt weiter wie bisher und konnte inzwischen ihr Album noch durch einige neue „Funde“ ergänzen. Da sich auch immer wieder Anfragen ergeben, bringen wir hier die Anschrift der eifrigen Sammlerin, die sich über jede neue entdeckte Urkunde freut, die als Kopie zu übersenden ist: Ursula Karge, Hollweg 20b in 26506 Norden, Telefon (04931) 3166. Die älteste ostpreußische Einsegnungsurkunde stammt aus dem Jahr 1857, und es ist wirklich ein Wunder, dass sie noch gerettet werden konnte. Ihre Besitzerin, Frau Roswitha Wohne aus Garbsen, übersandte uns nun eine sehr gute Farbkopie, so dass die Namen einwandfrei zu lesen sind. Und lieferte gleich die Legende mit, denn der damals am 20. September in der Kirche zu Gudnin konfirmierte Julius Federau war ihr Urgroßvater väterlicherseits, *9. Juli 1843 in Dreyhöfen als Sohn eines Postillons. „Wer hat schon eine solche Berufsbezeichnung in seiner Ahnenreihe?“, fragt Frau Wohne. Die Urkunde mit dem Titel „Zur Erinnerung an den heiligen Tag der Einsegnung“ ist sehr aufwendig gestaltet. Die Sprüche werden eingerahmt von Girlanden mit Engeln und Pilgern. Der Spruch aus 2. Kor. 13,3 „Versuchet euch selbst, ob ihr im Glauben stehet, prüfet euch selbst“ sollte wohl für alle Konfirmanden gelten, aber Julius Federau bekam noch als Geleit für sein weiteres Leben diese Worte mit: „Täusche dich nicht über den Zustand deines Herzens als ob du im Glauben nicht mehr irre gehen könntest, sondern forsche täglich, ob Christus in dir ist und mache ihm Wohnung in deinem Herzen.“ Unterzeichnet mit „Dein Lehrer und Pfarrer“ – leider ist der Name nicht einwandfrei zu lesen. Rätsel gibt auch noch immer das Gotteshaus auf, denn bestätigt wird die Urkunde mit dem Langheimschen Kirchensiegel. Nun gibt es keinen Kirchenort Gudmin, aber ein Gudnick/Gudnig, das zu dem Kirchspiel Langheim, Kreis Rastenburg gehörte. Vielleicht ist die Lösung ganz einfach: Der Seelsorger hat als Pfarrer und Lehrer in Gudnin/Gudnig unterrichtet, der Schulraum war also auch ein Ort der christlichen Lehre. Die Angabe „in der Kirche zu“ war auf dem Blatt vorgedruckt, der handschriftlich eingesetzte Ortsname bezog sich nicht auf ein Kirchengebäude, sondern auf diesen Andachtsraum. Alte Urkunden geben ja oft Rätsel auf, aber die machen sie gerade interessant. Wir danken jedenfalls Frau Wohne für die Übersendung der Farbkopie dieser Urkunde, die so gut zu der Karwoche und zum Osterfest passt. Aber Roswitha Wohne hat auch noch ein Anliegen, denn ihre in Folge 23/2012 veröffentlichten Suchfragen blieben ohne Antwort oder diese erreichte nicht die Absenderin, da sie im Urlaub war. Deshalb kurz nachgefragt: Wann war die Evakuierung der Insassen des Krönungs-Jubiläums-Stifts in Tilsit? Bis Swinemünde ist der Vorgang zu verfolgen, denn dort starb eine ihrer Tanten, die in dem Stift gelebt hatte. Ging dann der Transport der Evakuierten weiter und wenn ja, wohin? Vielleicht meldet sich jetzt jemand, der Frau Wohne eine Auskunft geben kann. (Roswitha Wohne, Krebsgasse 13C in 30823 Garbsen, Telefon 05137/71513.)

Auch eine Art Dokumentensammlung sind Gästebücher, vor allem wenn sich dort Namen finden, die über den persönlichen – und somit einen begrenzten – Bereich hinaus einen größeren Kreis ansprechen. Und eine besondere Überraschung bedeutet es natürlich für einen der dort Verzeichneten, wenn er nach fast 70 Jahren liest, was er damals in das noch im Original vorhandene Gästebuch einer ostpreußischen Schule geschrieben hat. Unmöglich, das meinen jetzt wohl die meisten Leser. Nicht in unserer Ostpreußischen Familie, die für Überraschungen besonderer Art immer gut ist und in der Jahrzehnte zerfließen wie Butter in der Sonne. Ich spreche da nicht nur als Mittlerin der Suchwünsche, sondern aus eigener Erfahrung, die jetzt eine brandneue Variante erfahren hat. Denn in dem Gästebuch der Ebenroder Luisenschule steht meine Eintragung vom 3. Mai 1943 in Form eines kleinen Gedichtes samt meiner Unterschrift. Und eine zweite besagt, dass ich sogar noch einmal in der Schule gelesen habe, und das erscheint im Nachhinein unglaublich, denn das Datum bezeugt den 1. Juni 1944 als Besuchstag. Ganz vorsichtig fragte der Übersender der Kopien, Herr Dr. Dieter Grau aus Bonn, ob die beiden Eintragungen von mir stammen könnten, was ich umgehend bejahen konnte. Und dann erzählte er, wie es überhaupt zu diesem Fund gekommen sei. Dieter Grau, auch literarisch ambitioniert, hat mehrere Bücher geschrieben, darunter seine heiteren „Stallupöner Geschichten“. Nebenbei betreut er redaktionell das „Nachrichtenblatt der Stallupöner Realgymnasiasten und Luisenschülerinnen“. In dieser Eigenschaft erhielt er von seinem Landsmann Gert Brandstäter, der sich seit Langem bemüht, Material über seine Heimatstadt zusammen zu tragen, das Gästebuch der Luisenschule, das dieser im Archiv in Kassel, der Patenstadt von Ebenrode/Stallupönen, entdeckt hatte. „Verewigt“ hatten sich darin rund 100 Gäste, die zum größten Teil an Konzerten teilgenommen, Vorträge oder Lesungen gehalten hatten. Und somit stieß er auch auf meine Eintragungen und bereitete mir mit der Übersendung der Kopien eine große Überraschung und noch größere Freude. Denn ich fand darin auch die Namen von Menschen, mit denen ich verbunden war, wie Agnes Miegel oder Fritz Kudnig, gelebte Vergangenheit, die auf einmal wieder so lebendig ist. Was mich besonders berührt hat, ist, dass der „Entdecker“ Gert Brandstäter gerade in dem Jahr – 1943 – geboren wurde, als ich dort las. Ihm und Herrn Dr. Grau sage ich meinen herzlichsten Dank.

Noch mehr berührt hat mich aber ein anderes Schreiben, das ich zuerst als Suchfrage zur Veröffentlichung auf unserer Familienseite einschätzte, das mich aber – je weiter ich las – zu einem der gravierenden Schicksalstage meines Lebens führte. So wie die Vergangenheit mich da einholte, habe ich es noch kaum erlebt, jedenfalls nicht nach so langer Zeit. Der Brief kam aus Lübeck-Travemünde, geschrieben hat ihn Herr Karl Grünsfelder, der dort im Rosenhof seinen Lebensabend verbringt. Kein Landsmann, wie ich nach den ersten Zeilen merkte: „Ich stamme aus dem ehemaligen Kohlenpott und war als Kadett auf dem Schweren Kreuzer ,Admiral Scheer‘. Wir lagen im Januar 1945 wegen des schweren Eisgangs auf der Ostsee im Pillauer Hafen fest, weil unser Geleitschutz, Torpedoboote oder Zerstörer, nicht auslaufen konnten. Wir Kadetten und zum Teil andere Mannschaften hatten die Aufgabe, Flüchtlinge und Soldaten, die es geschafft hatten, Pillau zu erreichen, beim Anlegen von ,rettenden Planken‘ zu verpflegen und sie davon abzuhalten, sich in die eisige See zu drängen. Ein Lazarettzug wurde von uns entladen und auf zwei ehemalige Urlaubsschiffe, die „Berlin“ und die „Monte Rosa“ – nun zu Lazarettschiffen umgebaut – transportiert. Jetzt bin ich seit einigen Jahren fleißiger Leser der PAZ/Das Ostpreußenblatt. Das Erlebnis der Flucht der ostpreußischen Bevölkerung lässt einen nicht mehr los. Darüber will ich aber nicht mehr schreiben, nur ein wenig Hintergrundwissen macht diesen Brief verständlich für Sie.“ Also kein Suchen nach Zeitzeugen, kein Forschen nach ehemaligen Kameraden aus jener Zeit. Karl Grünsfelder wollte ganz einfach loswerden, was ihn sein Leben lang beschäftigt hat. Und wusste, dass er bei uns den Anker werfen konnte. Was er nicht ahnen konnte: dass er ausgerechnet in mir als Ansprechpartnerin nicht nur eine Frau mit Hintergrundwissen gefunden hat, sondern eine Zeugin, keine Zeit-, sondern eine Augenzeugin. Denn wenn es Ende Januar 1945 war, als dies geschah, dann war er es vielleicht, der mir auf die Gangway zu dem Begleitboot der „Adler“, einem Minensuchboot, geholfen hat. Und wenn er mit dabei war, die Verwundeten auf die „Adler“ zu bringen, ist er wohl meinem Bruder begegnet, der dort als Arzt die Aktion begleitete. Allerdings wusste damals keiner von uns Geschwistern, dass wir zusammen in diesem Geleitzug waren, das kam erst nach Flucht und Kriegsende in einem Gespräch heraus. Ich werde Herrn Grünsfelder anrufen, und wir werden wohl in einem längeren Gespräch klären, ob wir uns beide in diesen Schicksalsstunden begegnet sind. Ich hatte mir eigentlich für diese Osterausgabe andere Beiträge vorgenommen, kleine Erfolgsgeschichten, wie ich sie gerne unseren Lesern als „Überraschungseier“ überreichen wollte – aber nun ist es doch anders gekommen. Zwar sind es schon unerwartete Geschehnisse, doch sie betreffen mich besonders – ich bin nun einmal als Ansprechpartnerin immer präsent, mein langes, sehr intensiv in und für Ostpreußen gelebtes Leben kommt hinzu, da finden sich schnell Anknüpfungspunkte. Doch vor allem sollen diese Beispiele beweisen, dass es tatsächlich heute noch möglich ist, die Vergangenheit zu durchleuchten und Ereignisse an das Licht zu bringen, die man längst vergessen glaubte. Sie wollen keine falschen Hoffnungen erwecken, aber doch aufzeigen, dass es sich immer lohnt zu suchen, zu forschen, zu hoffen. Und anregen, sich ganz einfach mitzuteilen wie Herr Hans-Jürgen Mees aus Neuwied, mit dessen Zeilen ich diese Kolumne beenden will: „Durch unseren ostpreußischen Metzger, bei dem mein Vater beschäftigt war, kam ich in den 60er Jahren zu Ostpreußen. Onkel Karl musste mir viel von seiner Heimat erzählen. Auch hatte er Bilder aus Königsberg und Umgebung, wo er her kam. Von der Zeit an habe ich mich nur noch für Ostpreußen interessiert. In den 70er Jahren kam ich durch zwei Kollegen zum Ostpreußenblatt. Von dieser Zeit an habe ich die Ostpreußische Familie kennen gelernt. Ich habe Sie bewundert für die Nachforschungen, die Sie bearbeiten. Mein Wunsch war es immer, auch einmal nach Ostpreußen zu reisen, jedoch machte ein Schlaganfall dies nicht möglich. Erst im Jahr 2010 konnten meine Frau und ich mit einem Busunternehmen dorthin fahren. Wir waren in Osterode, und von da aus erkundeten wir das Ermland und Masuren. Ein großes Erlebnis für mich. Ich freue mich jede Woche über die Ostpreußische Familie und darüber, wie viele Menschen wieder zusammengeführt wurden!“ Danke, lieber Herr Mees, für dieses „Oster­ei“!

Eure Ruth Geede


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