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06.04.13 / Badischer Gran Canyon / Die Wutachschlucht im Schwarzwald: Unterwegs in Deutschlands ursprünglichster Wildflusslandschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-13 vom 06. April 2013

Badischer Gran Canyon
Die Wutachschlucht im Schwarzwald: Unterwegs in Deutschlands ursprünglichster Wildflusslandschaft

Der Frühling lädt zum Wandern ein. Grund genug, die im Südschwarzwald gelegene wild-romantische Wutachschlucht zu erkunden, die vor 100 Jahren noch Touristenmagnet für prominente Kurgäste aus ganz Europa war.

In dieser Schlucht im Südschwarzwald lag das romantische Deutschland noch ausgebreitet wie für ein Gemälde Caspar David Friedrichs. Im Schein von Lampions flanierten die Reichen und Schönen noch im Sommer anno 1913 mit Reifröcken und Zylinderhüten nachts zur rauschenden Wutach und spürten dem Geist der Romantik nach. Im Schwarzwald wähnten sie ihren Gesundbrunnen. Aus London, Paris und Sankt Petersburg kamen die mondänen Gäste früher.

Altreiche Adelige und neureiche Industrielle kurten sich die Sommermonate quer durch den Kontinent. Weil damals die Anreise noch viel Zeit kostete, blieben die Kurgäste vier bis sechs Wo­chen. In den Lokalblättern wurde penibel Buch geführt, welche Promis zu Besuch waren, welche Konzerte es gab, selbst die Speisekarten hatten Nachrichtenwert.

Hundert Jahre und länger ist das her, es war das „Goldene Zeitalter“. Bereits 1840 war aus dem mittelalterlichen Badhof im Grund der Schlucht ein Kurbad geworden. Boll, der kleine „Kuh“-Ort am Rande der Wutachschlucht im Hochschwarzwald, war internationaler „Kur“-Ort geworden, mit Schwefelsohle, mondänem Hotel und Strom aus dem Turbinenhäuschen.

1887 war es, da entwickelte Bad Boll so richtig Zugkraft, als die steile Höllentalbahn Fahrt aufnahm, die den Südschwarzwald bis heute mit Freiburg und dem Rest der Schienenwelt verbindet. Ein Telegraf verdrahtete den Kurort mit der weiten Welt, der gute Ruf der Wutachforellen war bis nach England gedrungen, und so nannte der Bad Boll Fishing Club Ltd. London von 1894 bis 1913 das romantische Hotel sein eigen.

Die Höllentalbahn ächzt heute noch die Steiltrassen hoch, die Touristen tummeln sich auch wieder im Talgrund, nur der Waldaufseher ist neu. Martin Schwenninger ist Forstwirt und Naturschutz­wart und hat heute die Mission, einen Trupp Touristen heil durch die Schlucht zu schleusen. Schwenninger ist 55, wirkt mit Outdoor-Outfit, Mecki-Haarschnitt und seiner drahtigen Erscheinung aber viel jünger. Seit 2004 ist die Schlucht sein Revier.

„Mit dem Ersten Weltkrieg zogen sich die Engländer zurück“, erzählt er. Aus der Anglerresidenz wurde 1918 eine Tagungsstätte, die 1960 einging. 1975 machte ein Brand dem Kurhaus ganz den Garaus. Die Natur gibt wieder den Ton an: ein sanftes Rauschen in Fluss und Blätterwald. Seit 1939 schon ist die Wutachschlucht Naturschutzgebiet.

Zwischen Bonndorf und Löffingen gelegen, verläuft sie über 33 Kilometer im Bereich der oberen Wutach nach Osten Richtung Schwäbischer Alb. Eine Durchwanderung ist eine Reise durch die Erdgeschichte. Gneise und Granit, Buntsandstein und Muschelkalk – der Fluss schneidet in seinem Lauf fast alle Gesteinsschichten des deutschen Südwestens an.

Heute ist der Schluchtpfad Teil des Fernwanderwegs Schluchtensteig, der durch den Südschwarzwald führt. Seit einigen Jahren wird die Schlucht als „Gran Canyon des Schwarzwalds“ beworben – mit Erfolg. Mittlerweile besuchen pro Saison rund 100000 Naturfreunde die Schlucht.

Sieben Wanderer haben sich am Parkplatz in Boll eingefunden, um der Wutach zu folgen, immer ostwärts bis zur Wutachmühle. Die Namen auf der Wanderkarte klingen nach Schwarzwaldmärchen, als tauchten zwischen Wurzelwerk und blankem Fels gleich Wilhelm Hauffs Kohlenmunk-Peter oder der Schatzhauser aus dem „Kalten Herz“ auf: Schattenmühle und Räuberschlössle, Glockenhalde und Eisbärenhöhle, Rümmelesteg und Tannegg-Ruine.

Durch den Wald führt ein Weg abwärts in den Grund. Schwenninger macht halt: „Da, die Reste einer Ritterburg.“ Ohne den Hinweis würde keiner die Überbleibsel von Fundament und Umfassungsmauern für die Ruine eines Rittersitzes halten. Früher habe es hier viele Burgen gegeben. Ein Grund ist die Mineralquelle im Tal. Die Ritter von Tannegg hatten in der Schlucht ihr Badhäuschen. Die seichten Stellen im Fluss waren ihr Mautgeschäft.

Gemächlich geht es durch Laubwald, dann durch Auwiesen. Mal folgt der Steig der Wutach auf Höhe des Flusses, mal zieht er sich an den Bergflanken hoch und senkt sich wieder. Bis zu 170 Meter hoch ragt die Oberkante des Steilabfalls über das Tal. Wuchtige Holzbrücken auf hohen Pfeilern signalisieren von fern die Seitenwechsel. Über eine Natur­steintreppe geht es die Wände hoch. Metallpfosten und dünne Stahlseile improvisieren auf dem schmalen Weg ein Geländer. 50 Meter über dem Fluss öffnet sich ein Panoramablick. Keine zehn Meter breit strömt der Wildfluss träge durch das Tal, bis zum Horizont nichts als Wald.

Der Abstieg führt zu den verkarsteten Amselfelsen. Den Namen gaben die Wasseramseln, die in der Steilwand brüten. Im Sommer sackt der Wasserstand schon mal auf 20 Zentimeter, stellenweise versickert die Wutach ganz und tritt andernorts wieder aus. Im jetzt allmählich beginnenden Frühjahr sprudelt und strömt sie wieder, dann steigt ihr Pegel bis auf zwei Meter.

Am Wegrand ragt ein spitzer Baumstumpf aus der Erde. Der Stamm liegt daneben. Der Holzfäller war ein Biber, weiß Schwenninger. Vor einigen Jahren seien die Nager vom Rhein hoch gekommen. „Jetzt frisst der Biber sich hier durchs Gras, erst ist die Pestwurz dran, dann die Erle.“ Vor seinen modernen Feinden – Autos und Stauwehren – ist er in den Seitenarmen sicher.

1200 aller 2500 europäischen Pflanzenarten kommen in der Schlucht vor, allein 40 Orchideen. Dazu kommen rund 10000 Tierarten – die meisten Glieder- und Weichtiere sowie Insekten. Unter den fast 80 Vogelarten ragen Wander- und Turmfalke sowie Eisvogel heraus. In den Felsen der Schlucht nistet seit einigen Jahren der Uhu, in den kleinen Höhlen hausen acht Fledermausarten. An den errichteten Baldrian-Säulen hinterlässt ein scheues Pelztier seine Spur. Wildkatzen riechen den Sexuallockstoff an den Holzpflöcken auf Kilometer.

Das Gelände zwingt Jäger, ohne Auto auszukommen. Rehe und Wildschweine freut das, meint der Aufseher. „Muss ich das hochtragen?“, frage sich der Jäger, wenn das Wild im Visier auftauche. Die Kugel bleibt dann im Lauf. Die Schonzeit dürfte über kurz oder lang ein Ende haben. „Der Luchs zigeunert bereits herum“, weiß Schwenninger, die Raubkatze übernimmt das Jagen.

Aufkommender Wind kündet Regen an. Nach viereinhalb Stunden wird pünktlich beim Sägewerk in Wutachmühle der Linienbus nach Boll erreicht. Manche Wanderer schlaucht die Schlucht bloß, anderen wird sie zur Konditionsfalle. Im Sommer, wenn viele Familien und graumelierte Heerscharen unterwegs sind, wenn Spontanentschlossene auf Sandalen und Stöckelschuhen hinab in die Schlucht kraxeln, kommen Bergwacht und Rotkreuzhelfer zuweilen kaum aus der Einsatzkleidung raus.

Wenn sich Schnee ankündigt, ist die Schlucht verbotene Zone. „Bei Eis und Schnee nicht begehbar!“, warnen Schilder. Wegen Rutsch- und Absturzgefahr sind manche Abschnitte dann unpassierbar. „Die Schlucht wird dann aber nicht abgesperrt“, sagt Schwenninger. Um Wanderer nicht auf falsche Gedanken zu bringen, bittet er immer darum, keine Schneeansichten der Schlucht zu verbreiten. Für viele ist die Wildromantik in Weiß einfach zu schön, um ihr zu widerstehen. Kai Althoetmar


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