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06.04.13 / Antike Philosophie entdecken / Ideenreicher Roman um einen päpstlichen Sekretär auf Abwegen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-13 vom 06. April 2013

Antike Philosophie entdecken
Ideenreicher Roman um einen päpstlichen Sekretär auf Abwegen

Das Buch „Die Wende“ führt seine Leser zu den Ursprüngen der Renaissance und damit der Moderne. Die literarische Abenteuerreise, für die Autor Stephen Greenblatt den Pulitzer-Preis erhielt, führt in innerkirchliche Intrigen, zu einer Schatzjagd nach verlorenem Wissen und nebenbei zum Verständnis eines antiken Gedichts „Von der Natur“ (De rerum natura), das den spannenden Umweg von Vergessen und Wiederentdeckung „in den Hauptstrom modernen Denkens“ nimmt, so der Autor. Das ist seine teils eigenwillige Sicht.

Held des populärwissenschaftlichen Tatsachenromans ist der heute kaum bekannte Humanist Poggio Bracciolini. Er steigt zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus einer eher einfachen Notarsfamilie kommend im Klerus Italiens bis zum Sekretär des Papstes auf. Als gefragter Schreiber entwickelt er eine Passion für den Stil antiker Texte. Doch die Auswahl ist begrenzt, Originale scheinen nur noch indirekt aus Zitaten auf, wie er in Briefen mit befreundeten Humanisten feststellt. Diese Dandys ihrer Zeit wetteifern um das Privileg, antike Literatur auszutauschen. Ihr Ruhm wie ihr Neid gründen auf der Verbindung ihrer Namen mit den von ihnen geborgenen Schriften. Es ist ein lustbetonter Zirkel. Als Poggios Dienst-herr, Johannes XXIII., abgesetzt wird, wendet sich für ihn das Blatt: Er hat jetzt Zeit, doch nur noch geringe Einkünfte. Im Winter 1417 setzt Poggio alles auf eine Karte, verschreibt sich ganz der Suche nach verschollenen antiken Texten in fernen Klosterbibliotheken. Im Kloster Fulda, wie Greenblatt vermutet, landet der Mann aus Florenz einen Volltreffer: Er liest die von Mönchen abgeschriebene Kopie des Klassikers „De rerum natura“, einst verfasst im 1. Jahrhundert v. Chr. vom Philosophen Titus Lucretius Carus, kurz Lukrez, einem Schüler Epikurs. Die Wende, der eigentliche Beginn der Renaissance als Rückbesinnung auf die Antike, hat damit laut dem Autor begonnen.

Poggio „ein zynischer apostolischer Sekretär im Dienst des berühmt-berüchtigten Papstes“ nimmt den Leser als Abenteurergehilfen und Zeugen der Wende mit. Diese spannende Entwicklung verkopft allerdings im Laufe des Romans. Anfangs unterhaltsame Auszüge aus derben Schwänken und gegen kirchliche Scheinheiligkeit gerichteten Schriften Poggios vermag der Shakespeare-Experte Greenblatt zusehends nur noch in allgemeine mit der Antike munitionierte Ablehnung von Kirche umzudeuten. Die Mönche der Klöster verwahren Wissen nach dieser Lesart eher aus Versehen: „Was er tatsächlich zu finden hoffte, waren Worte, die im besten Fall unverdorben, jedenfalls nicht verdorben waren durch das geistige Universum des niederen Schreibers, der sie kopierte.“ Ausgerechnet in einem deutschen Badehaus betritt die reisende Hauptfigur dann eine Schwelle zu neuem Leben, „in dem christliche Regeln nicht länger zählen“. Poggio muss als Brennglas für Attacken auf das Christentum, jene „Sekte sturer Juden“, herhalten. Die heidnisch-römische Welt wertet Greenblatt, seinem grundlegend religionskritischen Idol Lukrez zum Trotz, hingegen als „gesättigt von der Präsenz des Göttlichen“.

Auf diese anderen Wegbereiter der Renaissance, die Künstler und frühen Humanisten als eigentliche Geburtshelfer der Epoche, geht Greenblatt kaum ein. So tritt seine Vision vom Beginn der Moderne als eine vorrangig auf der Schrift des Lukrez beruhende hervor, was einen lesenswerten, aber doch mitunter einseitigen Zugang zur antiken Philosophie eröffnet. Sverre Gutschmidt

Stephen Greenblatt: „Die Wende. Wie die Renaissance begann“, Siedler, Berlin 2012, geb., 352 Seiten, 24,99 Euro


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