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04.05.13 / Die Entdeckung des »Ich« / Vor 200 Jahren wurde der dänische Philosoph Søren Kierkegaard geboren – Auf ihn beriefen sich die Existenzialisten wie Sartre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-13 vom 04. Mai 2013

Die Entdeckung des »Ich«
Vor 200 Jahren wurde der dänische Philosoph Søren Kierkegaard geboren – Auf ihn beriefen sich die Existenzialisten wie Sartre

An einem trüben Oktobertag des Jahres 1841 traf ein junger dänischer Theologiestudent in Berlin ein und bezog eine Unterkunft in der Nähe des Gendarmenmarkts. An der Friedrich-Wilhelms-Universität besuchte er die Vorlesungen des Religionsphilosophen Fried­rich Wilhelm Schelling, der kurz zuvor den vakanten Lehrstuhl von Friedrich Hegel übernommen hatte und nun die dem Idealismus verpflichteten Lehren seines Vorgängers ganz im Geiste der Ro­mantik fortführte.

Schellings Vernunftslehre, nach der man einzig aus dem Erleben der Natur heraus zu einer objektiven Erkenntnis und damit Gott am nächsten kommt, stieß bei dem dänischen Zuhörer jedoch auf schroffe Ablehnung. „Schelling faselt unerträglich“, schreibt er selbstbewusst in einem Brief, „ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, sie zu halten. Seine ganze Lehre über Potenzen verrät die äußerste Impotenz.“

Mit seinen damals 28 Jahren war der Däne Søren Aabye Kierkegaard tatsächlich nicht mehr der jüngste Student. Sein Weltbild hatte sich zu der Zeit bereits verfestigt, und es schien, dass er Berlin auch deshalb aufsuchte, um mit dem deutschen Idealismus den Härtetest an seinem Gedankengebäude durchzuführen. Es hatte wohl standgehalten, jedenfalls kehrte er schon fünf Monate später nach Kopenhagen zurück. Nur sein Berufsziel als Prediger gab er auf, von nun an wollte er Schriftsteller werden.

Der wie der Dramatiker Hebbel sowie die Opernkomponisten Wagner und Verdi im Jahr der Völkerschlacht vor 200 Jahren ge­borene Kierkegaard hat mit Schopenhauer die auf Kant gegründete Erkenntnisphilosophie entscheidend mit erschüttert. Alle, die danach kamen – Nietzsche, Heidegger oder Sartre –, beriefen sich auf den Dänen, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen als Sohn eines wohlhabenden Großkaufmanns zur Welt kam. Schicksalsschläge in der Familie – fünf seiner sechs Geschwister starben früh – ließen bei ihm eine pessimistische Weltsicht aufkeimen – eine weitere Eigenschaft, die er mit dem Misanthropen Schopenhauer gemeinsam hatte. Und ähnlich wie der Idealismusvernichter aus Danzig konnte Kierkegaard sorglos vom reichen Erbe seines Vaters leben, nachdem der 1838 gestorben war.

Fast schien es, als würde Kierkegaards Leben in wohlgeordneten Bahnen verlaufen, verlobte er sich doch mit einem zehn Jahre jüngeren Mädchen. Doch nur ein Jahr später, 1841, löste er das Verlöbnis mit Hinweis auf den großen Al­tersunterschied auf, floh nach Berlin und widmete sich fortan in einem beinahe radikal religiösen Fanatismus seinen philosophischen Studien, ohne sich jemals wieder an eine Frau zu binden.

Für kurze Zeit hatte er als Genussmensch gelebt. Doch diesem Hedonismus entsagte er nun als ethisch denkendes Individuum. Und genau dieses dualistische Handeln steht im Mittelpunkt seines 1000-seitigen Hauptwerks „Entweder – Oder“, das er gleich nach seiner Rück­kehr aus Berlin verfasste. Darin erzählt er von der Person A., die nur ihren Sin­nen und Trie­ben gehorcht. In dem berühmt gewordenen Abschnitt „Ta­gebuch eines Verführers“ schildert A., wie sich ein Ästhe­tiker und Ehe­verweigerer zum Sklaven seiner Begier­den macht und sich selbst da­mit seiner Frei­heit beraubt. Die andere Person B. bildet das ethische Gegengewicht, mit dem man letztlich aber auch nur Sklave von Prinzipien ist und ein an Konventionen gefesselter Mensch bleibt.

Kierkegaards Lösung: nach vorne schauen. Es ist nicht wichtig zu wissen, was die Welt ist, sondern was der Mensch sein will. In seinem Tagebuch schrieb er: „Was mir eigentlich fehlt, ist, ins Reine mit mir selbst zu kommen darüber, was ich tun soll, nicht was ich erkennen soll. Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was Gott eigentlich will, dass ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.“

Stand bei den Idealisten wie Hegel oder Schelling noch die Realität oder Natur im Zentrum des Wahrheitsfindung, so ist es bei Kierkegaard der Mensch selbst. Sein neuer existenzialistischer Ansatz blieb außerhalb Dänemarks, wo sich seine Werke zwangsläufig nur in geringen Mengen verkauften, lange unentdeckt. Erst lange nach seinem Tod – er starb am 11. November 1855 in Kopenhagen an den Folgen eines Schlaganfalls – kamen Kierkegaard-Übersetzungen weltweit in Mode, als erst der marxistische Literaturkritiker Georg Lukács, der Theologe Karl Barth und der Philosoph Martin Heidegger sowie später die Existenzialisten um Sartre seine radikal aufs „Ich“ ausgerichtete Philosophie weiterdachten. Harald Tews

 

Kierkegaard-Schau

Im Flensburger Science Center „Phänomenta“ können sich Besucher in einer gerade eröffneten Ausstellung über Kierkegaard informieren. Die von Lesungen, Workshops und Tagungen begleitete Ausstellung endet am 6. November. (Norderstraße 157–163, Nordertor, 24939 Flensburg, www.phaenomenta-flensburg.com.)

Im Berliner Haus am Waldsee werden vom 22. Juni bis 22. September namhafte internationale Künstler die Philosophie Kierkegaards mit den Mitteln der Kunst ausdrücken. Die Ausstellung „Entweder / Oder“ ist Teil des internationalen Kierkegaard-Jahres und entsteht in Zusammenarbeit mit dem Festival „200 Jahre Søren Kierkegaard“ in Dänemark sowie mit der Kunsthalle Nikolaj in Kopenhagen, wo die Ausstellung noch bis zum 19. Mai stattfindet. (Haus am Waldsee für internationale Kunst, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin, Internet: www.hausamwaldsee.de.) tws


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